Lesepredigt Palmarum 2020

5. April 2020
Predigt zu Markus 14,3-9
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Die besonders Glaubenden

Die Salbung in Betanien
Der diesjährige Predigttext für den Sonntag Palmarum ist dem 14. Kapitel des Markusevangeliums entnommen:
Als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und aß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.
Da wurden einige unwillig und sprachen zueinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte. Sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.


Vorbereitung auf Ostern
Der heutige Predigttext zu Beginn der Karwoche versetzt uns zunächst weit zurück in unsere abendländische Tradition, liebe Gemeinde. Denn der Sonntag vor Ostern stand im frühen Christentum ganz im Zeichen der Vorbereitung auf Ostern. In den Gottesdiensten wurden die Taufbewerber*innen (griechisch Katechumenen), die an Ostern getauft werden sollten, mit „Katechumenenöl“ gesalbt. Deshalb wurde an diesem Sonntag die Erzählung von der Salbung in Betanien verlesen. Die Einzugsgeschichte (Johannes 12,12–16) wurde daran angeschlossen. Erst ab dem 7. Jahrhundert erhielt der Sonntag vor Ostern den Namen „Palmsonntag“. Eine eigene Feier mit der dramatischen Nachahmung des Einzugs Jesu und einer Palmprozession kam in der Westkirche erstmals im 8. Jahrhundert auf. Mit dem heutigen Predigttext begeben wir uns also in die Tradition des frühen Christentums.

Frauen als die besonders Glaubenden
Und dort können wir Entdeckungen machen, die durchaus auch Bedeutung für unser heutiges Leben haben. So hebt zum Beispiel die Erzählung von der Salbung in Betanien, mit der die Passionsgeschichte beginnt, Frauen als die „besonders Glaubenden“ (Fritzleo Lentzen-Deis) hervor. Am Anfang und am Ende der Passionsgeschichte treten Frauen mit Salböl auf, um ein gutes Werk am lebenden und am toten Jesus zu vollziehen.

Nach jüdischem Verständnis werden gute Werke an Armen, Kranken, Trauernden und Toten vollzogen. Die Sorge um die Bestattung des Toten genießt sogar mehr Ansehen als die Spende für die Armen. Der Ärger der anwesenden Jünger über die angebliche Geldverschwendung ist also völlig unangebracht. Die unbekannte Frau vollzog ein gutes Werk. Anders als die erzürnten Männer wusste sie, wohin Jesu Weg führen wird. Und sie wusste, was seine Liebestat am Kreuz für die Menschen bedeutet. Deshalb goss sie das wertvolle Nardenöl über sein Haupt. Ihre Salbung kann als ein prophetisches Zeichen verstanden werden. Sie salbte Jesus zum leidenden Messias.
In der Passionsgeschichte treten die Frauen um Jesus als die besonders Glaubenden auf, während die männlichen Jünger mit dem großmäuligen Petrus an der Spitze ihren Rabbi im Stich lassen und verleugnen.
Für mich ist das keine nebensächliche Beobachtung. Sie ist eine der zentralen Botschaften der Passionserzählung für die Gemeinde Jesu Christi: Frauen sind die besonders Glaubenden!

Frauen als die besonders Helfenden
Deshalb hätte den Frauen zumindest eine gleichberechtigte Beteiligung an der Gemeindeleitung zugestanden werden müssen. Doch das geschah nicht. Die christlichen Gemeinden passten sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld an. Und dort wurde Frauen von den Männern die gerechte Teilhabe am öffentlichen Leben untersagt. Frauen hatten sich den Männern unterzuordnen. Daran hat sich in der römisch-katholischen, in den orthodoxen und auch in einigen protestantischen Kirchen bis heute nichts geändert.
Nun könnte man meinen, dass bei uns zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht die Frauen den Männern gleichgestellt sind. Im Grundgesetz heißt es im 3. Artikel unmissverständlich: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechts […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Doch genau das geschieht. Etwa wenn es um die tarifliche Entlohnung von Männern und Frauen geht. Obwohl Frauen die gleichen Qualifikationen besitzen oder gleiche Leistungen erbringen wie ihre männlichen Kollegen, werden sie in fast allen beruflichen Tätigkeiten schlechter bezahlt. Dem Statistischen Bundesamtes nach verdienen Frauen in Deutschland durchschnittlich 22 Prozent weniger als Männer. Damit liegt die Bundesrepublik weit hinter anderen europäischen Ländern zurück. Frauen verdienen im europäischen Durchschnitt „nur“ 15 Prozent weniger als Männer.
Unerträglich wird dieser Skandal angesichts der Erfahrungen, die wir in dieser Krisenzeit machen. Es sind nämlich vor allem Frauen, die in den so genannten „Care-Berufen“ durch ihre Arbeit unser Fürsorgesystem vor dem Zusammenbruch bewahren. Ob in den Krankenhäusern, in den Arztpraxen, in den Pflegeheimen, in den Kindergärten oder zu Hause, überall leisten mit einem Anteil von bis zu 90 Prozent Frauen die Fürsorgearbeit. Sie sind in dieser Krisenzeit die Stützen unserer Gesellschaft. In Anlehnung an unseren Predigttext bezeichne ich sie als die besonders Helfenden.

Gottes Hinwendung zu den Frauen
Frauen als die besonders Glaubenden und besonders Helfenden. Wenn man sich das bewusst macht, ist ihre Benachteiligung eigentlich kaum zu fassen. Damit wird nicht nur dem täglichen Dank im Fernsehen oder dem Klatschen in der Öffentlichkeit Hohn gesprochen. Damit wird auch Gottes Hinwendung zu den Frauen nicht ernst genommen.
Das verdeutlichen die scharfen Worte Jesu an die Jünger. Mit ihnen weist er ihre Empörung zurück und bringt zum einen seine Zuneigung gegenüber Frauen als besonders Glaubende und Helfende zum Ausdruck. Zum anderen stiftet er mit ihnen ein ewiges Gedächtnis. Bis zum Jüngsten Tag wird mit dem Evangelium, mit der guten Nachricht von Gottes Liebestat am Kreuz auch die Erzählung von der Salbung in Betanien verkündigt werden. Wo immer die Menschen das Evangelium hören, wird ihnen auch von der guten Tat der unbekannten Frau erzählt.
Mit dieser Erzählung vernehmen wir zugleich Gottes Hinwendung zu den Frauen. Sein gesalbter Sohn ergreift Partei für die besonders Glaubenden und Helfenden. Es wird Zeit, dass wir das endlich ernst nehmen. So aktuell und unbequem können Entdeckungen aus der Zeit des frühen Christentums sein.

Mit einem Gebet von Frère Roger wünsche ich Ihnen eine gesegnete Karwoche:

Gott des Friedens,
Freude des Evangeliums willst du in uns legen.
Sie ist da, ganz nahe, neu entfacht durch deinen Blick,
der voll Vertrauen auf unserem Leben ruht.