Lesepredigt Neujahr

Neujahr 2021
Predigt zur Jahreslosung Lukas 6,36
Roland Liebenberg

Seid barmherzig!


Der Manager


Nachdem er sich das Gesicht gewaschen hatte, schaute er in den Spiegel. Was er dort sah, 
gefiel ihm nicht. Weit hatte er es gebracht. Nach dem Studium ging es im Konzern für ihn nur nach oben. Nach leitenden Tätigkeiten im Ausland wurde er in den Finanzvorstand berufen. Dann zum Vorstandsvorsitzenden gewählt.


Wie bei vielen anderen Konzernchefs war sein oberstes Ziel, den Wert des Konzerns zu 
steigern. Dazu drängten die Aktienbesitzer. Also teilte er den Konzern auf und entließ tausende von Mitarbeitern. Sein Konzept ging auf. Der Börsenwert stieg. Die Aktienbesitzer waren zufrieden. Auch er selbst hat gut verdient. Dennoch fühlte er sich unwohl. Kolleginnen und Kollegen, die wie er jahrzehntelang im Konzern gearbeitet hatten, mussten gehen. Das Betriebsklima ist frostig geworden. In der Belegschaft schaut man nur noch auf sich selbst und den eigenen Vorteil. Früher hielten sie sich für eine „Familie“. Es gab ein Gefühl der iZusammengehörigkeit.


Das ist vorbei. Und er hat mit seinen Entscheidungen wesentlich dazu beigetragen. Er trocknete sich das Gesicht ab. Heute trifft er sich mit seinen Enkelkindern. Was werden sie von ihrem Großvater denken, wenn sie erwachsen sind? Er verdrängte den Gedanken und lächelte verlogen sein Spiegelbild an.


Die Tochter


Szenenwechsel. Gehetzt kam sie im Café der Bäckerei an. Ihre Freundin war schon da und 
winkte ihr zu. In früheren Zeiten trafen sie sich mindestens einmal die Woche. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander und konnten alles miteinander besprechen. Seit dem plötzlichen Tod der Mutter hat sich das geändert. Sie trafen sich immer seltener. Ihr Vater brauchte Hilfe, konnte kaum noch laufen und ging nicht mehr aus dem Haus. Er erwartete von ihr, dass sie sich um ihn kümmert. Also kaufte sie für ihn ein, wusch seine Wäsche, putzte und kochte. Wann immer er sie brauchte, war sie für ihn da. Fremde Hilfe kam für ihn nicht in Frage. Wozu hatte er schließlich eine Tochter.


Sie setzte sich hin und bestellte einen großen Cappuccino. Nach einer Weile, fragte sie ihre 
Freundin, wie es ihr zu Hause ergehe. Da fing sie an zu schluchzen. Es war ihr peinlich. Sie 
kämpfte dagegen an. Doch es half nichts. Sie konnte nicht mehr, war mit ihren Kräften am 
Ende. „Ich muss ihm doch helfen“, schluchzte sie. „Auch mein Mann wird immer unzufriedener. Anfangs hat er mich ja unterstützt. Doch jetzt beklagt er sich immer öfter. Ich kümmere mich zu wenig um ihn. Mein Vater nutze mich aus. Ich vernachlässige den eigenen Haushalt.“ Ihre Freundin hörte ihr betroffen zu.


Die Jahreslosung


Diese beiden Szenen fielen mir ein, als ich mir Gedanken über die Jahreslosung 2021 machte. Selten trifft eine Jahreslosung den Nerv der Zeit so sehr, wie die diesjährige. Sie ist der so  genannten Feldrede Jesu im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums entnommen und lautet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ In der Feldrede schließt die Aufforderung zum Barmherzig-Sein den Gedankengang zum Gebot der Feindesliebe ab.

Den Feind zu lieben, geht weit darüber hinaus, ihm sein Verhalten nur zu verzeihen. Das 
erlittene Unrecht wird freiwillig und einseitig mit Liebe beantwortet. Jesus verweist mit der 
Feindesliebe auf das Reich Gottes. Denn dort beruht die Ordnung nicht mehr auf Gewalt und  Gegengewalt. Im Reich Gottes wird das Miteinander durch die Liebe bestimmt.

Wenn wir unsere Feinde lieben, konfrontieren wir sie mit der Ordnung des Gottesreiches. Wir  zeigen ihnen, dass wir uns schon hier in dieser gewalttätigen Welt an der Barmherzigkeit  orientieren. Dass die Barmherzigkeit für uns, die getauften Kinder Gottes, der Maßstab unseres Lebens ist. Deshalb schließt Jesus seine Ausführungen zur Feindesliebe mit der Aufforderung ab, barmherzig zu sein, wie auch unser Vater im Himmel barmherzig ist.

Die Barmherzigkeit Gottes  


Mit dieser Aufforderung werden wir in die Mitte der biblischen Tradition hineingeführt. Denn die Barmherzigkeit gehört zum Wesen Gottes, wie die Gnade, Güte, Geduld und Treue. Die  Botschaft, dass Gott ein barmherziger Gott ist, zieht sich wie ein roter Faden durch die  biblischen Bücher. Wir vernehmen sie beim Bundeschluss des Volkes Israel am Sinai, in den Psalmen und Prophetenbüchern oder können sie in den Briefen des Apostels Paulus lesen. 


Was ist mit der Barmherzigkeit Gottes gemeint? Eine Antwort darauf gibt uns das  Bedeutungsspektrum des hebräischen Wortes rächäm, das in der Lutherbibel mit Barmherzigkeit  wiedergegeben wird. Zum einen bezeichnet rächäm das Innere, das Mitgefühl und Erbarmen.  Gott reagiert innerlich auf unser Ergehen. Gott hat geradezu körperliche Empfindungen, wenn  es um sein Volk oder seine getauften Kinder geht. Es sind Empfindungen, wie wir sie von einer liebenden Mutter oder einem liebenden Vater kennen. Sie sind die Ursache dafür, dass Gott  trotz unserer Sünden an uns festhält.


Das hebräische Wort rächäm kann zum anderen auch als „Mutterschoß“ übersetzt werden. Der Mutterschoß ist die bildliche Bezeichnung für den Sitz der liebevollen Empfindungen Gottes. In Gottes oder Abrahams Schoß geborgen zu sein, heißt daher, in Gottes Erbarmen geborgen, von Gottes Barmherzigkeit umschlossen zu sein. Wir haben in der Kottensdorfer St. Nikolauskirche dazu ein entsprechendes Bildmotiv: unsere heilige Anna selbdritt. Auf ihrem Schoß trägt sie ihre Tochter Maria und ihren Enkelsohn Jesus, der noch ein Kind ist. Damit gibt der Künstler zu verstehen: Wie in Annas Mutterschoß, sind Maria und Jesus auch in Gottes Liebe und Erbarmen geborgen.


Sei barmherzig zu dir selbst!


Mit der Aufforderung, barmherzig zu sein wie unser himmlischer Vater, führt uns Jesus auch in die Mitte unseres alltäglichen Miteinanders hinein. In allem, was wir in diesem neuen Jahr tun, ist Barmherzigkeit gefragt. Und das gilt auch uns selbst gegenüber.

„Sei vor allem dir selbst gegenüber barmherzig!“ Diesen Ratschlag erhielt die verzweifelte Tochter von ihrer Freundin. Es dauerte, bis die Botschaft bei ihr ankam: Sei zu dir selbst barmherzig. Du kannst nicht für andere da sein, wenn du dich und deine Bedürfnisse verleugnest. Nachdenklich verließ die Tochter das Café. Auf dem Nachhauseweg beschloss sie, sich kundig zu machen, welche Hilfsangebote es für sie und ihren Vater gibt. Vor allem aber wird sie mit ihrem Vater sprechen. Sie wird ihm klar machen, dass sie Hilfe benötigt. Und dass auch ihm nicht gedient ist, wenn sie zusammenbricht.


Wer unbarmherzig mit sich selbst ist, tut sich schwer, anderen gegenüber barmherzig zu sein. Entweder man bricht wie die pflegende Tochter früher oder später zusammen oder man ist prinzipiell nicht bereit, barmherzig zu sein.


Unbarmherzige Gesellschaft


Auf gesellschaftlicher Ebene zeigt sich das zur Zeit besonders im Umgang mit geflüchteten Menschen. Was derzeit an der EU-Außengrenze mit Menschen in den völlig überfüllten Aufnahmezentren auf den griechischen Inseln oder in Bosnien-Herzegowina in der Nähe zur kroatischen Grenze passiert, ist ein himmelschreiender Skandal.


Tausende Menschen müssen in Zelten leben, ohne ausreichenden Zugang zu sanitären Einrichtungen. Nach dem Brand des Flüchtlingslagers Lipa in Bosnien-Herzegowina sind die Geflüchteten obdachlos. Bei Schneetreiben kämpfen sie ums nackte Überleben. Es hat den Anschein, als ob das die europäischen Regierungen bewusst hinnehmen, um vor der Flucht nach Europa abzuschrecken. Mit ihrem Nichthandeln scheinen sie ihr wahres und unbarmherziges Gesicht zu zeigen. Ihre Sonntagsreden über Menschenrechte, Menschenwürde oder gar christliche Werte entpuppen sich an der EU-Außengrenze als verlogenes und heuchlerisches Geschwätz.


Wenn den politisch Verantwortlichen in den europäischen Staaten christliche Werte wirklich etwas bedeuteten, würden sie sich um die Geflüchteten kümmern wie es das biblische Gebot, Fremde aufzunehmen, unmissverständlich fordert. Hätten sie Mitleid und Erbarmen mit geflüchteten Menschen wäre es niemals so weit gekommen.

Was teilt uns das derzeitige Flüchtlingsdrama über unsere eigene Gesellschaft mit? Kein Aufschrei der Empörung ist darüber zu vernehmen. Wir wenden uns ab und gehen unseren privaten Interessen nach. Außerdem haben wir derzeit mit der Corona-Pandemie ja genug am Hals. Blicke ich auf die öffentliche Reaktion, dann steht für mich fest: Unsere Gesellschaft ist unbarmherzig.


Mitfühlender Verzicht


Das teilt mir auch die wachsende Ungleichheit und Ungerechtigkeit in unserem Land mit. Seit nun schon Jahrzehnten fehlt der politische Wille, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Es fehlt der politische Wille zu einer gerechten Verteilung des Reichtums. Warum ist das so? Weil es an Barmherzigkeit mangelt.


Der Sozialwissenschaftler und Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung Heinz Bude nennt es die Bereitschaft zum „mitfühlenden Verzicht“. Ohne die Bereitschaft zum mitfühlenden Verzicht wird es keine gerechte Verteilung von Gütern und Geld geben. Gerechtigkeit ist nicht zu haben ohne Barmherzigkeit.

War es das, was dem Vorstands-vorsitzenden bei der Betrachtung seines Spiegelbilds nicht gefiel? Wurde ihm für einen Augenblick bewusst, wie unbarmherzig er als Konzernchef gehandelt hatte? Was für einen Schaden er mit seiner Zerschlagung zugunsten der Aktienbesitzer bei tausenden von Kolleginnen und Kollegen angerichtet hatte? Diese Fragen kann nur der bald aus seinem Amt scheidende Vorstandsvorsitzende selbst beantworten. Mir ging es heute Abend darum, die Bedeutung und Reichweite die Jahreslosung 2021 aufzuzeigen. Jesu Aufforderung gehört mitten hinein in unser Leben und unsere Gesellschaft:


„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“