Lesepredigt Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr

15.November 2020
Predigt zu Lukas 16,1-8
Dr. Roland Liebenberg

Schuld und Neuanfang

Die Vorsorge des Verwalters

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Lukas im 16. Kapitel:
Jesus sprach zu den Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter; der wurde von ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz. Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib deine Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.
Da sprach der Verwalter zu sich selbst: Was soll ich tun? Mein Herr nimmt mir das Amt. Graben kann ich nicht, auch schäme ich mich zu betteln. Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihren Häusern aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde.
Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich. Und er sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig. Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach: Nimm deinen Schuldschein und schreibe achtzig.
Der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.


Der größer werdende Ballast der Schuld

Rechenschaft soll er ablegen, liebe Gemeinde. Denn als Verwalter hat er das Geld seines Chefs verschleudert. Doch die Beschuldigung kümmert ihn nicht. Sein Ziel ist es, aus seiner Situation das Beste zu machen. Seinen Job ist er los. Zum arbeiten mit den Händen ist er zu ungeschickt. Und betteln will er auch nicht. Also braucht er Menschen, mit deren Hilfe er eine Zeit über die Runden kommt. Dazu veruntreut er wieder Geld. Er fälscht die Schuldscheine seines ehemaligen Arbeitgebers und reduziert die Schuldenlast der Schuldner. So gewinnt er deren Wohlwollen, baut neue Beziehungen auf, schafft Abhängigkeiten, knüpft ein Netzwerk.
Nur nicht nach hinten schauen, das scheint sein Motto zu sein. Denn wenn er nach hinten schauen würde, müsste er sich mit seinem Fehlverhalten, mit seiner Schuld auseinandersetzen. Von ihr kann er sich nicht selbst freisprechen. Dafür braucht es ein Gegenüber. In seinem Fall wäre das sein Arbeitgeber. Ihm gegenüber müsste er alles gestehen, sein Fehlverhalten beichten und um Verzeihung bitten. Doch das kann oder will er nicht. Deshalb gibt es für ihn keinen Neuanfang. Er macht dort weiter, wo er aufgehört hat. Er setzt sein betrügerisches Leben fort und vergrößert so den Ballast seiner Schuld.

Die Kinder dieser Welt

So reagieren die „Kinder dieser Welt“ auf ihre Schuld, teilt uns heute der Predigttext mit. Wie recht er damit hat, zeigen die Vorgänge nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich will Ihnen das mit zwei Beispielen deutlich machen.
Am 7. Januar 1951 kamen im bayerischen Landsberg am Lech vor dem Rathaus fast 4.000 Menschen zusammen. Sie veranstalteten eine „Protestkundgebung gegen die Unmenschlichkeit“. Seit vier Jahren benutzten die Amerikaner ihr trutziges Gefängnis jenseits Flusses als Kriegsverbrechergefängnis Nr. 1. Dort, wo Hitler 1924 seine Festungshaft abgesessen und das NS-Regime später politische Häftlinge gefangen gehalten hatte, saßen nun deutsche Kriegsverbrecher ein. Männer wie Otto Ohlendorf, der wegen 90.000-fachen Mordes an jüdischen Männern, Frauen und Kindern zum Tod verurteilt worden war. Oder der Essener Industrieunternehmer Alfred Krupp von Bohlen und Halbach, der in seinem Stahlkonzern Tausende NS-Arbeitssklaven ausgebeutet hatte. 2 Die Bürger Landsbergs trieb nicht das Entsetzen über die Taten der Inhaftierten auf die Straße. Sie demonstrierten gegen die amerikanische „Siegerjustiz“. Sechs Jahre warteten 28 Inhaftierte nun schon auf ihre Hinrichtung. Jetzt gelte es, forderte Bürgermeister Ludwig Thoma in seiner Ansprache, diesen Männern „menschliche Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen. Der Initiator der Kundgebung, Gebhard Seelos von der Bayernpartei, forderte das deutsche Volk in seinem „Kampf für Gerechtigkeit, Frieden und Völkerversöhnung“ dazu auf, sich gleichermaßen „gegen die von den Nationalsozialisten an fünf Millionen Juden begangenen Verbrechen und gegen das unmenschliche Hinhalten der zum Tode verurteilten Nazis“ zu wenden.

Gnadenfieber

Die im Holocaust Ermordeten wurden mit ihren Mördern gleichgesetzt. Das war kein Einzelfall in den Nachkriegsjahren. Die Mehrheit der Deutschen verleugnete die eigene Verstrickung in das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Die Mitverantwortung und Schuld an dessen Verbrechen wiesen die Menschen brüsk zurück. Stattdessen griff in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ein „Gnadenfieber“ für die NS-Verbrecher um sich.

Für dieses Fieber sorgten auch evangelische Kirchenvertreter. Auch sie verschwiegen oder leugneten ihre Komplizenschaft mit dem NS-Regime. Ein aufrichtiges Schuldeingeständnis lehnten sie ab. Dem gegenüber ließ ihre Kritik an der Besatzungspolitik und ihr Einsatz für die NS-Täter nichts zu wünschen übrig.

Die beiden großen Kirchen finanzierten zum Beispiel Anwälte, um Hauptbeschuldigte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu verteidigen. Sie unterstützten auch den 1951 von Helene Elisabeth von Isenburg gegründeten Verein „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“. In den 50er Jahren ging es dieser getarnten Nazi-Organisation um die Betreuung von NS-Kriegsverbrechern, um deren Unterstützung mit Geld und Anwälten und um das Einreichen von Gnadenerlassen.

Kinder des Lichts

Hohe Kirchenvertreter wie der württembergische Landesbischof Theophil Wurm begründeten ihre Mitarbeit in der „Stillen Hilfe“ mit ihrem Bemühen um die Aussöhnung mit der Vergangenheit. Sie wollten einen Neuanfang für die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Heute wissen wir, dass dieser Neuanfang damals nicht gelang.

Dafür wäre das unmissverständliche Eingeständnis der Schuld und die Auseinandersetzung damit nötig gewesen. Wie der ungerechte Verwalter war die große Mehrheit in Deutschland zu dieser Zeit dafür noch nicht bereit. Und wie der Verwalter versuchten sich die Menschen klug mit den widrigen Verhältnissen zu arrangieren.

Das Lob, das der Verwalter von seinem Herrn dafür erhält, hat für mich daher einen bitteren Unterton. So klug sich die Kinder dieser Welt arrangieren können mit den gegebenen Verhältnissen, so schwer tun sie sich mit ihrer Schuld. Wie es gehen könnte, wie wir zu „Kinder des Lichts“ werden, erzählt Jesus in den Gleichnissen vom verlorenen Schaf, verlorenen Groschen oder verlorenen Sohn. Lukas hat sie unserem Predigttext vorangestellt. Sie erzählen, wie das Eingeständnis der Schuld, die Reue darüber und die erfahrene Vergebung ein neues Leben in Wahrheit und gerechtem Miteinander ermöglichen.
Das gilt nicht nur für unser privates Leben. Das gilt auch für unsere Gesellschaft. Wir können unsere Vergangenheit hinter uns lassen und unser Leben wie der ungerechte Verwalter klug, das heißt zu unserem Vorteil führen. Wir können uns aber auch aufrichtig und der Wahrheit verpflichtet unserer Geschichte und der damit verbundenen Schuld stellen. Am Volkstrauertag werden wir aufgefordert, genau das zu tun. Denn nur so ist ein wirklicher Neuanfang möglich. Ein Neuanfang, der uns auf den Weg der Gerechtigkeit und des Friedens führt. Ein Neuanfang, der uns zu Kindern des Lichts werden lässt.