Lesepredigt Trinitatis

30. Mai 2021
Predigt zu Joh 3,1-8
Dr. Roland Liebenberg

Sehen mit dem Geist


Jesus und Nikodemus

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Johannes im 3. Kapitel:

Es war ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm:

Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.


Ein Kinderspiel

Kennen Sie das Kinderspiel: Ich sehe was, was du nicht siehst? Ich habe es in meiner Kindheit oft gespielt. Wenn man die Aussage macht: Ich sehe was, was du nicht siehst, dann muss man seinen Spielkameraden einen Hinweis geben, eine Farbe oder ein anderes Erkennungszeichen nennen, und schon geht das Raten los.

Dieses Kinderspiel will ich heute als eine Umschreibung für unsere christliche Existenz begreifen. Denn an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist zu glauben heißt: Christinnen und Christen sehen mehr als andere.

Der Pharisäer Nikodemus

Genau das versucht Jesus seinem Gesprächspartner Nikodemus zu verdeutlichen. Als Mitglied des Hohen Rates, des obersten jüdischen Gerichtshofes, ist Nikodemus eine anerkannte Autorität in Jerusalem. Ein Mann von Einfluss. Seine Stimme hat Gewicht.
Nikodemus ist Pharisäer, ein gelehrter Laie. Einer, der über Jahre hinweg sorgfältig die Hebräische Bibel studiert hat. Einer, der versucht, im Einklang mit den Geboten Gottes zu leben. Dabei klebt er nicht starr an seinen erworbenen Erkenntnissen. Nikodemus ist ein offener Mensch. Wenn ihm Neues begegnet, ist er bereit, seine Einsichten und Prinzipien zu überprüfen.

Nikodemus hat von Jesus gehört, von seinen Worten und Taten. Bei einer Hochzeit in Kana soll der junge Rabbi tatsächlich Wasser in Wein verwandelt haben. Und im Tempel hat er, erfüllt von heiligem Zorn, die Händler vom Hof gejagt. Den Berichten nach muss Jesus jemand sein, der Gott auf seiner Seite hat. Sein Auftreten und die geschehenen Zeichen haben Nikodemus neugierig gemacht. So macht er sich eines Nachts auf, um mit Jesus zu reden.

Ein seltsames Gespräch

Der Gelehrte Nikodemus sieht in Jesus einen gleichgestellten Kollegen, vielleicht sogar mehr. Auf jeden Fall spricht er Jesus voller Wertschätzung und Ehrerbietung an: „Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“ In dieser Ehrerbietung klingt eine weitere Frage durch: Wer bist du eigentlich, Jesus?
Die Antwort, die Nikodemus erhält, muss ihn vor den Kopf gestoßen haben. Sie geht weder auf die Ehrerbietung des alten Gelehrten noch auf die dahinter liegende Frage ein. Man hat den Eindruck, als ob die beiden aneinander vorbeireden. Nikodemus ist an Jesus, an seiner Person interessiert. Und Jesus geht es um die umfassende Wirklichkeit Gottes: „Nur wer von neuem geboren wird“, gibt er dem verdutzten Nikodemus zu verstehen, „kann das Reich Gottes sehen“.

Im Grunde war das eine schroffe Zurückweisung. Jesus teilt dem freundlichen Pharisäer indirekt mit: „Du kannst hier überhaupt nicht mitreden. Denn hier geht es um geistliche Dinge. Um die Wirklichkeit Gottes. Die kann eben nicht jeder sehen.“ Aber Nikodemus lässt sich nicht so schnell abweisen. Er bohrt nach: „Wie kann denn ein erwachsener Mensch von neuem geboren werden? Wie soll das gehen? Soll er in den Schoß seiner Mutter zurückkriechen? Ein bisschen deutlicher musst du schon werden, werter Kollege!“ Dabei weiß Nikodemus durchaus, dass Jesus hier nicht einer physischen Geburt das Wort redet.

Will er sich also über Jesus lustig machen? Oder ist er einfach nur ungeduldig, weil Jesus nicht auf ihn eingeht? Oder will er von ihm wirklich wissen: Was kann ich dafür tun, dass ich das Reich Gottes sehe? Wie kann ich ein neuer Mensch werden?

Der mutige und unbequeme Nikodemus

Was auch immer die Absicht des frommen Pharisäers ist, seine Hartnäckigkeit trotzt mir Respekt ab. Und zwar deshalb, weil sie mutig und unbequem ist. Denn blicke ich auf mich, dann muss ich einräumen, dass es vieles an mir gibt, was mich hindert, ein neuer Mensch zu werden.

Da ist zum Beispiel meine Bequemlichkeit. Sie verhindert meine Bereitschaft, einen neuen Weg einzuschlagen. Oder da sind die vielen schlechten und zugleich lieb gewordenen Angewohnheiten. Die gebe ich nur sehr ungern auf. Auch tue ich mich schwer, meine Überzeugungen fahren zu lassen. Ich möchte, so oft es geht, recht haben!

Wie schaut es bei Ihnen aus? Sind Sie so mutig und hartnäckig wie der alte Nikodemus? Oder neigen Sie dazu, unbequeme Wahrheiten lieber zu verdrängen? Tun Sie sich genauso schwer wie ich, Irrtümer einzugestehen?

Und überhaupt: Von neuem geboren werden, ein neuer Mensch werden – wie soll das gehen? Ich will das heute mit Nikodemus fragen. Und ich hoffe, von Jesus eine überzeugende Antwort zu erhalten.

„Das andere Sehen, die neue Perspektive in eurem Leben“, sagt Jesus, „könnt ihr nicht selbst herstellen. Es ist der Geist Gottes, der euch neu werden, der euch das Reich Gottes sehen lässt. Und das äußere Zeichen, dass Gottes Geist in euch wirkt, ist eure Taufe.“

Bekennen und sehen

Befriedigt Sie diese Antwort? Ich gehe davon aus, dass wir alle getauft sind. Sind wir dadurch neue Menschen geworden? Haben wir dadurch eine neue Sicht und damit einen neuen Zugang zum Leben gewonnen? Sehen wir deshalb Dinge, die andere nicht sehen können?

Die Taufe ist keine magische Handlung, die uns ein drittes, sehendes Auge verleiht. Gleichwohl ist sie ein äußeres Zeichen für den Weg, den wir mit Gott gehen. Wenn wir unsere Kinder taufen lassen, bekennen wir auch unseren Glauben zum dreieinigen Gott: Wir bekennen, dass wir uns und unsere Welt Gott, dem Schöpfer verdanken. Wir bekennen, dass Jesus Christus unser Bruder und Herr ist. Wir bekennen, dass Gottes Geist in unserer Mitte wirkt.

In jeder Taufe und in jedem Gottesdienst bekennen wir das. Wir bekennen, dass wir Gottes Geist erleben; dass wir etwas sehen, was unsichtbar ist und andere nicht sehen können. Trifft es für uns also doch zu: Ich sehe was, was du nicht siehst?

Gottes unverfügbarer Geist

Wenn es nur so einfach wäre. Denn das, was wir glauben und sehen, glauben und sehen wir nicht immer in gleicher Weise. Manches ist uns näher, manches ferner. Nicht alle Teile des Glaubensbekenntnisses können wir an jedem Sonntag mit derselben inneren Überzeugung sprechen.

Und es ist tröstlich, dass Jesus das in seinem Gespräch mit Nikodemus im Blick hat, wenn er sagt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Wie den Wind, so kann ich auch den Geist Gottes nicht ergründen und kontrollieren. Der Geist Gottes kommt und schenkt neue Einsichten und neues Leben. Aber ich kann nicht über ihn verfügen. Er kommt und geht, wann und wo er will.

Deshalb kann man das Wirken des Geistes anderen auch nicht zeigen wie die Wirkung von elektrischem Strom. Und deshalb bleibt Nikodemus nach dem Gespräch auch weiterhin in Distanz zu Jesus.

Ich sehe was, was du nicht siehst!

Sind sie nun bereit für eine Runde: Ich sehe was, was du nicht siehst? Die Spielregel weicht etwas ab von dem Kinderspiel. Denn ob Sie dasselbe sehen wie ich und mir zustimmen, liegt nicht in meiner und nicht in Ihrer Hand. Das liegt allein in Gottes Hand und am Wirken seines Geistes.

Also: Ich sehe was, was du nicht siehst: Gott hält die Welt in seinen Händen. Ich bin kein Zufallsprodukt, kein winziges und unbedeutendes Staubkorn im unendlichen Kosmos. Gott hat mir das Leben geschenkt und umgibt mich mit seinem Segen. Deshalb lebe ich gerne auf diesem wunderbaren blauen Planeten. Und ich will verantwortlich mit ihm umgehen.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Christus ist einer von uns geworden. Er hat uns mit Gott und untereinander versöhnt. Deshalb können wir zu uns stehen, auch wenn wir manchmal denken: Ich bin eine unbegabte Schülerin, die es im Leben zu nichts bringen wird; ein gescheiterter Unternehmer, der falsche Entscheidungen trifft; eine lausige Mutter, die ihren Kindern vieles schuldig bleibt; ein unzuverlässiger Freund, der das in ihm gesetzte Vertrauen nicht wert ist. Eine schlechte Oma, die die Familie nicht zusammenhält. Ich sehe das alles und rede mir nichts schön und kann dennoch zu mir stehen.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Gottes Geist ist unter uns wirksam und schenkt uns Kraft und Zuversicht. Gott überlässt uns nicht uns selbst. Er verbindet uns als Geschwister im Glauben. Daraus gewinne ich Kraft und Zuversicht für mich, für unsere Gemeinde und Kirche und für diese Welt.

Ich sehe was, was du nicht siehst! Für mich ist das nicht nur heute, am Sonntag Trinitatis, mehr als nur ein Kinderspiel.