Lesepredigt 1. So.n. Trinitatis

06.06.2021
Predigt zu Jeremia 23,16-29
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Mut zur Realität

Eine Aktion am Hof von Juda

Der Auftritt des zerlumpten Mannes am Hofe König Zedekias war beeindruckend. Auf seinen Schultern trug er ein hölzernes Joch. Damit verband er eine Botschaft. Anders als der König hielt er die politische Lage für bedrohlich. Mit dem Joch wollte er seiner Warnung Nachdruck verleihen: „Beugt euren Nacken unter das Joch des Königs von Babel, und seid ihm und seinem Volk untertan; dann bleibt ihr am Leben!“ 

Doch niemand wollte auf Jeremia hören. Die Propheten am Hof weissagten etwas anderes. Sie waren der Überzeugung, dass König Nebukadnezar keine Gefahr darstellt. Gott steht uns bei, war ihre Botschaft. Wir haben nichts zu befürchten. Das hörte sich besser an als die Mahnung Jeremias. Mit ihrer Botschaft hatten die Propheten des Königs das Volk auf ihrer Seite. Als der Hofprophet Hananja Jeremia das hölzerne Joch vom Nacken herunternahm und es in der Mitte entzweibrach, jubelten die Menschen.

Jeremia war blamiert und elend zumute. Denn er fühlte sich innerlich zerrissen. Gerne hätte er etwas anderes prophezeit. Heilfroh wäre er gewesen, wenn die anderen Propheten recht gehabt hätten. Doch Gott, der Herr der Heerscharen, hielt an seiner Absicht fest. Nebukadnezar wird Juda erobern. Abermals sandte Gott Jeremia. Diesmal, um das Volk Israel über die falschen Propheten aufzuklären.

Gottes Klarstellung

Im 23. Kapitel des Buches Jeremia lässt Gott durch seinen Propheten Jeremia folgende Worte ausrichten:

So spricht der Herr Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch. Sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es wird euch wohlgehen! Und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. Aber wer hat im Rat des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört?

Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat. Zur letzten Zeit werdet ihr es erkennen.

Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie. Ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt? spricht der Herr.

Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?

 Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume. Wer aber mein Wort hat, der verkündet wahrhaft mein Wort. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen? Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?


Erträumte Wirklichkeit

Auf wen hätten Sie gehört? Auf Jeremia oder die falschen Propheten? Ich wäre sicher ein Anhänger der falschen Propheten geworden. In dieser bedrohlichen, ja verzweifelten Situation wäre ich für jede positive Botschaft empfänglich gewesen. Auch bei mir wäre Jeremia abgeblitzt. Nach über einem Jahr Corona-Pandemie reagiere ich auf schlechte Nachrichten fast schon allergisch. Umgekehrt bin ich überaus empfänglich für gute Nachrichten. Wie schön ist es, am Morgen von den gesunkenen Inzidenz-zahlen zu lesen. Oder von den Lockerungen im Gastgewerbe, Kulturbereich oder in den Gottesdiensten. Endlich dürfen wir in den Gottesdiensten wieder singen.

Ist es falsch, die gute Nachricht der schlechten vorzuziehen? Ich kann darin nichts Falsches erkennen. Für mich drückt sich hier der Wunsch nach einem guten Leben aus. Nach einem Leben, das Freude macht, das frei ist von Angst und Sorgen.

Problematisch, ja gefährlich ist eine solche Einstellung nur dann, wenn sie die Realität nicht mehr wahrnimmt, wenn sie zur Träumerei, zur Weltflucht führt. Und genau das liegt bei Jeremias Zeitgenossen vor. Sie waren nicht mehr imstande, die Lage realistisch einzuschätzen. Das hatte für sie und das Königreich Juda katastrophale Konsequenzen.

Die Erwartung, dass Gott ihnen beisteht und es kein Unheil geben wird, war ein erträumtes Produkt ihrer eigenen Herzen. Eine Wunschvorstellung, die nach Bestätigung lechzte. Und diese Bestätigung gaben ihnen die falschen Propheten.

Der ferne Gott

Doch ihr erträumter Gott hat mit dem Herrn der Heerscharen nichts gemein. Ihr erträumter Gott ist ein Gott, der sich benutzen lässt, über den man verfügen kann. Ein Handlanger, der ihre Wünsche zu erfüllen hat. Der allmächtige Gott jedoch, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs lässt sich nicht benutzen. Der Herr der Heerscharen „wird nie das, was die Menschen aus ihm machen wollen“ (Claus Westermann). Für jene, die Gott zum Gehilfen ihrer Wünsche machen, ist Gott ein ferner Gott.

Jeremia wollte seine Landsleute aus der Sackgasse ihrer Träumereien, ihrer Weltflucht wieder herausführen. Er forderte eine realistische Sicht der Dinge. Mit Mut zur Realität wog er ab: Es ist allemal besser, sich Nebukadnezar zu unterwerfen, als vernichtet zu werden. Doch den Mut zur Realität konnten seine Landsleute nicht mehr aufbringen. Sie träumten einfach weiter.

Evas langer Weg zur Realität

Folgen wir der Botschaft Jeremias, dann gilt es, sich der Realität zu stellen. Dann ist Mut gefordert. Mut für die realistische Einschätzung der Situation, in der wir uns vorfinden – im privaten wie im öffentlichen Bereich.

Ich will Ihnen kurz von Eva erzählen. Schon als Jugendliche träumte Eva davon, einen lieben Mann zu heiraten und mit ihm eine Familie zu gründen. Ihr Mann war ihre große Liebe. Dass er auch jähzornig sein konnte, nahm sie anfangs nicht wahr. Sie wollte mit ihm ihren Traum verwirklichen. Eva war überzeugt: Er ist der richtige Mann für diesen Traum.

Sie heirateten. Ein gemeinsamer Sohn kam auf die Welt. Mit ihm sollte der Traum von einer glücklichen Familie wahr werden. Doch ihr Mann machte diesen Traum zum Albtraum. Am Anfang vereinzelt, mit der Zeit jedoch immer öfter kam es bei ihm zu Gewaltausbrüchen. Lange, sehr lange brauchte Eva, bis sie den Mut fand, ihn zu verlassen. Bis sie sich von ihrem Traum freimachen und sich der Realität stellen konnte. Der Realität, dass ihr Mann im Stress oder unter Alkoholeinfluss um sich schlägt. Erst als sie das nicht mehr schönredete, konnte sie einen neuen Weg einschlagen.

Die Einsicht des Bischofs

Auf andere Weise brachte in den vergangenen Tagen auch Kardinal Reinhard Marx den Mut auf, eine Situation realistisch einzuschätzen. Und zwar die Situation seiner, der römischkatholischen Kirche in Deutschland.

Seit nun schon elf Jahren werden die deutschen Bischöfe mit dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs in der Kirche konfrontiert. Die bisher veröffentlichten Missbrauchsstudien haben ein solches Ausmaß an Gewalt zum Vorschein gebracht, dass wohl jeder deutsche Bischof der Aussage zustimmt: „Wir haben versagt.“

Während sich bisher alle anderen Amtsträger hinter diesem allgemein gehaltenen Eingeständnis von Schuld verschanzen, ist Marx der erste Bischof, der sagt: „Ich habe versagt.“ Und er ist bereit, dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Zugleich erkennt er dahinter auch ein „systemisches Versagen“. Es hat nicht nur der einzelne Bischof versagt. Es hat auch die Institution Kirche versagt. Die Strukturen und Verhältnisse in der Kirche haben die Täter geschützt. Deshalb benötigt es eine grundlegende Erneuerung der Kirche. Zu dieser Einsicht ist Marx gekommen, weil er wie Jeremia die Lage im Unterschied zu seinen Amtskollegen realistisch einschätzt.

Die römisch-katholische Kirche ist in der schwersten Krise seit der Reformation. Ein „Weiter so“ führt wie beim Königreich Juda in den Untergang. Wem die römisch-katholische Kirche Deutschlands am Herzen liegt, kann nur hoffen, dass die Amtskollegen von Marx sich nicht wie die Hofpropheten König Zedekias verhalten. Der kann ihnen nur denselben Mut zur Realität wie Kardinal Reinhard Marx wünschen.

Habe den Mut zur Realität!

Mut zur Realität – das hat nichts mit Anpassung an vermeintlich unveränderliche Gegebenheiten zu tun, wie das aus manchen Politikerreden zu vernehmen ist.

Im Gegenteil: Gerade weil ich mir nichts vormache, gerade weil ich die Gegebenheiten richtig einzuschätzen versuche, bin ich imstande, den Hebel der Veränderung an der passenden Stelle anzusetzen. Wer sein Leben oder die Kirche verändern und erneuern will, braucht einen klaren Kopf und einen nüchternen Verstand. Träumereien sind hier fehl am Platz. Sie verhindern notwendige Veränderungen.

Habe den Mut zur Realität und ziehe daraus die notwendigen Konsequenzen! Das ist die Botschaft, die ich heute von Gott aus dem Mund seines Propheten Jeremia vernehme.