Lesepredigt Ewigkeitssonntag 2021

21.November 2021
 Jes 65,17-19.23-25
Pfr. Dr. Roland Liebenberg


Die Jesaja-Methode


Die gute Coronapandemie

Die Jahre der Coronapandemie brachten den Abschied vom „weiter so“. Eine immer schneller laufende, weltweit vernetzte Gesellschaft wurde mitten im Lauf gestoppt. Das war erst einmal ein Schock. Und es dauerte, bis sich die Menschen darauf einstellten. Doch dann erkannten sie, dass es ihnen in manchen Bereichen besser ging. Zu einem „weiter so“ waren sie nicht mehr bereit.

Vor der Pandemie sagten insbesondere Politiker, dass es zu dem eingeschlagenen Weg des immer schnelleren Wachstums keine Alternative gäbe. Doch dann fuhren sie mit einem Schlag alles herunter und riefen mehrere Lockdowns aus. Alles stand still. Nach dieser Erfahrung behauptete kein ernst zu nehmender Politiker mehr, dass es nicht auch anders geht.

Der Hass-Populismus wurde durch die Corona-Pandemie entlarvt. Die Menschen erkannten seine Bösartigkeit. Ihnen wurde bewusst, dass er die die schwierige Lage nur verschlimmerte. „In einer Krise, in der es auf Selbstverantwortung und Gemeinschaft ankam, entlarvte sich das populistische Freiheits- und Volksgegröle als das, was es war: Als eine aggressive Strategie verunsicherter Männer in ihrem letzten Gefecht.“

Diktatoren wie Lukaschenko, Erdogan oder Putin gerieten ins Hintertreffen. Ihre Macht wurde brüchig. Die Menschen begannen ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die demokratischen Bewegungen wurden nach anfänglichen Rückschlägen immer stärker und setzten sich am Ende durch.

Auch die digitale Revolution wurde während der Coronapandemie auf die Füße gestellt. Die beinahe fanatische Überhöhung des Digitalen als Welterlösung fand ein jähes Ende.

Die Menschen hörten auf, sich den technischen Neuerungen unterzuordnen. Stattdessen wurden die digitalen Möglichkeiten den menschlichen Bedürfnissen und Grenzen angepasst. Von diesem Zeitpunkt an nahm die Digitalisierung eine andere, humane Richtung ein.

Abschied von Kassandra

Sie fragen sich jetzt sicher, was ich Ihnen da erzähle. Jetzt, inmitten der vierten Coronapandemie, kurz vor einem weiteren Lockdown sieht die Lage doch ganz anders aus: Wir kriegen die Seuche nicht in den Griff. Die Pandemie hat alles viel schlechter gemacht. Die Zukunft sieht düster aus. Das dürfte die überwiegende Mehrheit unter uns denken.

Wie die trojanische Seherin und Königstochter Kassandra verharren wir im Elend der Gegenwart und nehmen in der Zukunft vor allem Unheil wahr. Anders als in der antiken Erzählung trifft Kassandras Ruf vom kommenden Unheil bei uns auf offene Ohren. Eine große Mehrheit unter uns erwartet von der Zukunft nichts Gutes. Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx stellt sich dem entgegen. Er fordert uns zum Abschied von Kassandra auf. Der kassandrische Blick, ist Horx überzeugt, raubt uns jegliche Hoffnung. Er lähmt uns und verhindert positive Veränderungen.

Das Prinzip der Regnose

Deshalb schlägt er einen Blickwechsel vor. Die Gegenwart will er von der Warte der Zukunft betrachten. Diesen Blickwechsel nennt er neudeutsch „Regnose“. Regnose bedeutet für ihn, „geistig ins Morgen zu springen und uns ‚rückwärts‘ zu fragen, wie wir dort hingekommen sind – und was sich ändern musste und konnte auf dem Weg dorthin.“
Die Zukunft kommt nicht auf uns zu, „sie [wird] durch unsere […] Einstellungen, Handlungen und Entscheidungen“ geformt.

Wir treten in einen „produktive Beziehung zur Zukunft“. Matthias Horx hat mit seinem Prinzip der Regnose für einiges Aufsehen gesorgt. Weil er mit diesem Prinzip zu einer vollkommen anderen Einschätzung der Zukunft kommt. Neu ist dieser Blick aus der Zukunft nicht. Im Gegenteil, er ist uralt. Was Matthias Horx und sein Zukunftsinstitut neudeutsch das Prinzip der Regnose bezeichnen, ist in der Bibelforschung als „Heilsprophetie“ bekannt. Mit Blick auf den Predigttext will ich sie heute die Jesaja-Methode nennen.

Worte aus der Zukunft des Ewigen

Krisen und schwere Zeiten im Miteinander gab es auch in den Zeiten des babylonischen Exils. Das Volk Israel war zerstreut. Die meisten hatten sich eingerichtet. Das einst stolze Volk Israel war im Begriff unterzugehen. Jerusalem lag zu großen Teilen in Trümmern. Der Tempel war zerstört. Was gewesen ist, ist vergangen.

Da trat ein Prophet aus der Schule Jesajas auf. Denn Gott war noch lange nicht fertig mit seinem Volk. Der Ewige legte seinem Propheten Worte aus der Zukunft in den Mund. Sie finden sich im 65. Kapitel des nach Jesaja benannten Prophetenbuches:

So spricht der Herr: Siehe, ich will einen neuen Himmel und neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.

Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude. Und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen. Denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn. Und ihre Nachkommen sind bei ihnen.

Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten. Wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Lamm sollen beieinander weiden. Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der Herr.


Der Prophet sprach Worte aus der Zukunft des Herrn zu seinen Zeitgenossen. Gott wird die Beziehung zu seinem Volk wieder herstellen. Die Menschen werden wieder nach ihm rufen. Und Gott wird antworten, noch ehe sie rufen. Freude und Zufriedenheit wird in ihre Herzen einkehren. Denn das gesellschaftliche Miteinander ist wieder in Ordnung. Die Arbeit wird gerecht bezahlt. Die Kinder sterben keinen frühen Tod mehr. Sie werden erwachsen an der Seite ihrer Eltern. Die Starken, die Wölfe und Löwen, leben in Einklang mit den Schwachen. Die Macht des Bösen, dafür steht das Bild der Schlange, ist gebrochen. Die Schlange muss Erde fressen.

Die Jesaja-Methode

Mit Worten aus der Zukunft des Ewigen werden die Menschen nicht nur aufgerichtet und getröstet. Die positive Zukunftsvision ermuntert sie, schon jetzt ihr Leben danach auszurichten. Denn das, was kommt, liegt in Gottes Hand. Und Gott will, dass es uns gut geht. Dass wir fröhlich und zuversichtlich unser Leben in seinem Sinne gestalten. Das will ich die Jesaja-Methode nennen.

Gott nimmt uns mit Worten aus der Zukunft an der Hand und führt uns aus den dunklen Tälern heraus. Mit seinem Propheten aus der Schule Jesajas richtet Gott sein Augenmerk auf dieses Leben. Schon jetzt soll es neu werden. Schon jetzt soll es erfüllt sein von der Freude über eine bessere und gerechtere Welt.

Heute, am Ewigkeitssonntag, hat die Jesaja-Methode aber auch eine jenseitige Dimension. Diese Dimension erhielt sie für die Christenheit durch die Auferstehung unseres Bruders und Herrn Jesus Christus. Die Worte, die vom Ostergeschehen erzählen, sind Worte aus der ewigen Zukunft im Reich Gottes.

Jesus spricht: „Ich bin die Auferstehung und das Leben! Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ (Joh 11,25) Das sind Worte aus der ewigen Zukunft im Reich Gottes. In diese Zukunft sind uns unsere Lieben im Glauben vorausgegangen. Wir sind noch unterwegs in diese ewige Zukunft.

Auf unserem Weg dorthin werden wir neben der derzeitigen Coronapandemie noch weitere Krisen und Verluste erleiden müssen. Dennoch wird uns Kassandras Ruf nicht mehr erreichen. Denn unsere Aufmerksamkeit gehört Gott und seinem Wort aus der ewigen Zukunft. Dieses Wort wollen wir hören. Bis wir mit Jesus und unseren Lieben das Fest des ewigen Lebens feiern.