21. März 2021
Predigt zu Hiob 19,19-27
Pfarrer Dr. Roland Liebenberg
Was nur Gott kann
Hiobs Klage
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch Hiob im 19 Kapitel. Die Verse 19–27 lauten:
Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich liebhatte haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde, denn die Hand Gottes hat mich getroffen. Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach, dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach, dass sie aufgeschrieben würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel im Blei für immer in einen Felsen gehauen!
Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Die Klage der trauernden Mutter
„Warum?“ Ich war kaum im Zimmer, als ich das mit einer tränenerstickten Stimme gefragt wurde. Mein Herz presste sich zusammen als ich sie zusammengekauert auf ihrem Stuhl weinen sah. Ich brachte kein Wort heraus und rang selbst um Fassung. Ihr jüngster Sohn hatte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Er war noch keine 50 Jahre alt. Alle saßen sie um den Tisch herum: die Schwestern und Eltern, die Lebensgefährtin, mit der er zwei kleine Kinder hatte. Sie schluchzten und weinten. Doch das Leid der Mutter ragte heraus. Sie zerfloss. Der Schmerz und die Trauer waren überwältigend.
Sie hatte ihren zweiten Sohn verloren. Ihr ältester Sohn war schon als Kind tragisch umgekommen. Diesen Verlust jetzt noch einmal erleben zu müssen, riss sie in einen Abgrund. Aus diesem Abgrund hilft kein Wort heraus. Ich schwieg und hörte mir ihre Klage an.
Hiobs unschuldiges Leid
Als ich den Predigttext las, liebe Gemeinde, kam mir die klagende Mutter wieder in den Sinn. Für ihr Leid traf sie wie bei Hiob keine Schuld. Es kam über sie, ohne etwas dagegen machen zu können. Mit einem Schlag war es da. Und ihre Welt war eine andere geworden.
In der Hioberzählung wird Hiob das Opfer einer perfiden, ja bösartigen Wette zwischen Satan und Gott. Satan ist überzeugt davon, dass Hiob von Gott abfällt, wenn das Unglück über ihn hereinbricht. Gott jedoch vertraut auf die Gottesfurcht seines Knechtes Hiob. Dennoch geht der Allmächtige auf die Wette ein. Gott lässt zu, dass sein treuer Knecht Hiob alles verliert. Zuerst sein Vieh, seine Kamele und seine Knechte, dann seine Töchter und Söhne.
Als Hiob dennoch an Gott festhält, geht der Allmächtige mit Satan eine weitere Wette ein. Jetzt geht es um Hiobs Gesundheit. Satan ist überzeugt davon, dass Hiob Gott verflucht, wenn er Hand anlegt an Hiobs „Gebein und Fleisch“. Hiob erkrankt. Am ganzen Körper, von den Fußsohlen bis zum Scheitel bilden sich böse Geschwüre.
Die schweigenden Freunde
Hiob hatte drei Freunde: Elifas, Bildad und Zofar. Als sie von dessen Unglück erfuhren, machten sie sich zu ihm auf. Sie wollten ihm ihre Anteilnahme bekunden und ihn trösten. Als sie sein Leid aber sahen und Hiob kaum noch erkannten, zerrissen sie voller Mitgefühl ihre Obergewänder und weinten. Elifas, Bildad und Zofar setzten sich mit Hiob in den Staub.
So saßen sie bei ihm sieben Tage und Nächte lang. Sie redeten kein Wort mit ihm. „Denn sie sahen“, heißt es in der Erzählung, „dass der Schmerz sehr groß war.“ Schweigend und voller Mitgefühl teilten die drei Freunde den Schmerz mit dem leidenden Hiob. In diesen sieben Tagen und Nächten waren sie ihm nah. Sie zeigten ihm, wie gern sie ihn hatten und wie betroffen sie sein Leid machte.
Mehr können wir nicht tun. Wenn der Schmerz und die Trauer überwältigend sind, können Worte nicht mehr helfen. Was könnten wir den Leidenden schon sagen? Wissen wir, warum Gott das zulässt? Ich weiß es nicht. Dass Worte den Schmerz verschlimmern können, das allerdings weiß ich. Davon erzählt auch das Buch Hiob.
Die redenden Freunde
Elifas, Bildad und Zofar hielten ihr schweigendes Mitgefühl eine Woche aus. Danach begannen sie zu reden. Sie drängten auf eine Erklärung für Hiobs Leid. Hiob musste Schuld auf sich geladen haben. Denn nach ihrem Weltbild hat das Tun des Menschen unmittelbare Folgen für sein Leben.
Handelt ein Mensch böse und lädt Schuld auf sich, wird Gott ihn und seine Nachkommen dafür bestrafen. Umgekehrt verhält es sich mit dem guten Menschen. Für seine guten Werke werden er und seine Nachkommen von Gott belohnt. Der gute Mensch ist gesegnet mit einem zufriedenen und angenehmen Leben.
Also suchten die drei Freunde in ihren Reden eine Antwort auf die Frage, welche Schuld Hiob auf sich geladen haben könnte. Mit ihren Reden vergrößerten sie das Leid von Hiob. Elifas, Bildad und Zofar entfernten sich von ihrem Freund, bis Hiob in unserem Predigttext frustriert feststellen musste: „Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich liebhatte haben sich gegen mich gewandt.“
Das unerträgliche Reden
Dass Reden Leid vergrößern kann, erleben wir täglich in dieser Pandemie. Ein bekannter, vielleicht sogar befreundeter Mensch infiziert sich mit dem Corona-Virus. Und es fängt in uns zu rattern an: Hat er oder sie nicht aufgepasst? War er oder sie leichtsinnig? Hat er oder sie Schuld auf sich geladen?
Solche Fragen sind eine schwere und zusätzliche Belastung. Sie zerstören Vertrauen und entfernen uns voneinander. Natürlich ist es sinnvoll, festzustellen, wie die Infektion zustande kam. Doch sollte so eine Untersuchung nicht mit der Schuldfrage verbunden werden. Denn das wird für die Infizierten in der Regel unerträglich. Auch für Hiob wurde es unerträglich. Deshalb kam es zum Bruch mit seinen drei Freunden. Es wäre besser gewesen, wenn sie weiter geschwiegen hätten.
Wenn nur Gott trösten kann
Für Hiob gab es niemanden, der ihm zu seinem Recht hätte helfen, der ihm aus seinem Elend hätte erlösen können. Deshalb wünschte er sich, dass seine Worte aufgeschrieben werden. Mit einem eisernen Griffel in Blei oder gleich in einen Felsen gehauen.
In einer anderen Zeit, erhoffte sich Hiob, gibt es vielleicht Menschen, die von ihm und für ihn zeugen. Die barmherziger sind als Elifas, Bildad und Zofar. Doch wäre ihm damit wirklich geholfen? Hätte er neuen Lebensmut geschöpft, wenn barmherzigere Menschen für ihn zeugen? Wenn sie ihm recht geben und mit ihm klagen, von der Hand Gottes getroffen zu sein?
Hiob hätte sich mit ihrer Hilfe vielleicht von Gott abgewandt und ein Leben ohne Gott geführt. Doch hätte ihn das wohl kaum getröstet und aufgerichtet. Dazu ist nur Gott imstande. Nur der allmächtige und barmherzige Gott kann ihm zu seinem Recht verhelfen. Hiob weiß das. Deshalb hält er trotz seines Leids an Gott fest.
Kraft zum Weiterleben
Wenn Gott allmächtig ist, hält er alles in seiner Hand: Glück und Unglück, Freude und Leid, Recht und Unrecht. Alles hält Gott in seiner Hand. Deshalb war es für Hiob nicht die Hand Satans, die ihn geschlagen hat. Es war die Hand Gottes.
Hiob vertraute aber weiterhin darauf, dass Gott barmherzig ist, dass sein Erlöser lebt und am Werk ist, dass Gott ihn aus dem Staub erheben wird. Hiob hoffte auf Gott gegen Gott. Am Ende wird Gott für ihn eintreten.
Hiobs Hoffnung bezog sich nicht auf das Jenseits. Sie bezog sich auf das Diesseits. Noch in diesem Leben wird Gott für ihn eintreten. Noch in diesem Leben wird Gott sich ihm barmherzig zuwenden. Und das wird Hiob neue Kraft zum Weiterleben geben.
Wieder muss ich an die klagende Mutter denken. Kein Mensch kann sie mit Worten trösten. Das weiß ich jetzt. Nur der allmächtige und barmherzige Gott kann ihr die Kraft zum Weiterleben schenken. Und das wird er tun. Darauf will ich mit Hiob und meinem Herrn Jesus Christus vertrauen.