Lesepredigt Lätare 2020

    

22. März 2020
Predigt zu Jesaja 66,10-14
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Zustand des Dazwischen

 
Freude in Jerusalem
Der diesjährige Predigttext für den Sonntag Lätare steht im 66., dem letzten Kapitel des Jesajabuches:
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet´s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.

Der Sonntag des Dazwischen

Der Sonntag Lätare ist ein eigentümlicher Sonntag, liebe Gemeinde. Ein Freudensonntag mitten in der Passionszeit. Man weiß nicht genau, wie es zu dieser Charakterisierung gekommen ist. Wahrscheinlich liegt es daran, dass dieser Sonntag seinen Platz in der Mitte der Passionszeit hat. Sie war ja zugleich eine Fastenzeit, über die streng gewacht wurde. Vielleicht freuten sich die Menschen darüber, dass die Hälfte der Zeit vorbei war. So wurde Lätare zu einem Sonntag des Dazwischen. Er nimmt seinen Platz zwischen dem Ernst der Passion und der Freude auf Ostern ein. Seine liturgische Farbe ist dem entsprechend Rosa. Sie ergibt sich aus dem Violett der Passionszeit und dem österlichen Weiß.
Von seinem Namen her ist der Sonntag eng mit der Stadt Jerusalem verbunden. In seiner lateinischen Form leitet er sich ab vom ersten Vers unseres Predigttextes: Freuet euch mit Jerusalem – Laetamini cum Hierusalem!



Jerusalems Zustand des Dazwischen

Berücksichtigt man die historischen Bedingungen, in welchen der Predigttext wahrscheinlich entstanden ist, kann auch für Jerusalem gesagt werden: Die Stadt befand sich in einem Zustand des Dazwischen. Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts war Juda ein Teil des persischen Provinzsystems. Der von den Babyloniern niedergerissene Tempel war wiederaufgebaut worden. Auch die zerstörte Stadtmauer Jerusalems sollte erneuert werden. Die jüdische Gemeinde erwachte in der Stadt zu neuem Leben. Denn im Tempel, dem wichtigsten Heiligtum, konnten wieder Gottesdienste gefeiert werden.
Darüber herrschte trotz der persischen Herrschaft Freude in Jerusalem: „Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.“
Die Situation der Menschen war zwar immer noch bedrückend, aber sie konnten wieder optimistischer in die Zukunft blicken. Ihre Trauer über das Elend in Jerusalem wich langsam der Freude auf eine bessere Zukunft in einer neu aufgebauten Stadt.
Wie die Stadt selbst befanden sich auch ihre Bewohner in einem Zustand des Dazwischen. Allerdings waren sie dabei, diesen Zustand hinter sich zu lassen. Sie waren auf dem Weg. Auf dem Weg von der Finsternis ins Licht, von der Trauer zur Freude.

Unser Zustand des Dazwischen

Ich nehme bei uns derzeit auch einen Zustand des Dazwischen wahr. In der vergangenen Woche wurde unsere Bewegungsfreiheit wegen der Corona-Pandemie Schritt für Schritt eingeschränkt. Inzwischen gilt auch für uns die Ausgangssperre. Unser Land steht mehr und mehr still.
Wie wir das wirtschaftlich verkraften, steht derzeit in den Sternen. Viele sehen schwarz. Gerade kleinere Unternehmen, etwa die Gastronomen oder Reisebüros, kämpfen jetzt schon um das Überleben. Aber auch die großen Konzerne erwarten einen so bisher noch nicht dagewesenen Bilanzeinbruch. Welche Folgen hat das für die Arbeitsplätze?
Ja, auch wir befinden uns wie die Jerusalemer in einem Zustand des Dazwischen. Und wie sie, sind wir auf dem Weg. Allerdings würde wohl die Mehrheit von uns diesen Weg so beschreiben: Wir befinden uns auf dem Weg vom Licht in die Finsternis, von der Freude in die Trauer. Uns ging es gut, doch in Zukunft wird es uns schlechter gehen. Ein Grund zur Freude besteht bei uns daher nicht.


 
Gestärkt durch diese Krise 

Am Freitag hörte ich im Radio ein Interview mit unserem Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm. Zunächst erklärte er sich mit den Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit einverstanden. Für ihn sind sie ein Zeichen der gesellschaftlichen Solidarität mit jenen, die bei einer Erkrankung durch das Corona-Virus die beste medizinische Hilfe benötigen. Als er gefragt wurde, welche Folgen die Krise für unsere Gesellschaft haben werde, zeigte sich Bedford-Strohm davon überzeugt, dass wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

Mit dieser Einschätzung dürfte unser Landesbischof wohl kaum die Mehrheit in unserem Land hinter sich haben. Dennoch schließe ich mich seiner optimistischen Erwartung aus zwei Gründen an.

Der erste Grund sind eigene Beobachtungen und Erfahrungen. Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben uns aus unserem alltäglichen Trott herausgerissen. Sie zwingen uns zum Innehalten, zum Nachdenken über unser Leben. Der aktuelle Klimawandel und all die anderen Krisen und Probleme, mit denen wir vor Ort und weltweit konfrontiert sind, fordern uns ja dringlicher denn je dazu auf, darüber nachzudenken, wie wir leben wollen. Es geht schon lange nicht mehr um das „Ob“ von Veränderungen, sondern nur noch um das „Wie“. Gerade in Krisenzeiten wie der jetzigen sind viele unter uns bereit, darüber ernsthaft nachzudenken.

Aufgefallen ist mir das unter anderem an einem prominenten Zeitgenossen. Bei einer Videokonferenz des Deutschen Fußballbundes am vergangenen Mittwoch überraschte Fußball-Bundestrainer Jogi Löw die Öffentlichkeit mit Worten, die man so von ihm noch nicht vernommen hat. Die Corona-Krise habe die Welt fest im Griff und nichts, nichts sei mehr, wie es war. Die Welt habe ein kollektives Burn-out erlebt. Der Fußball stehe jetzt hintenan, andere Dinge seien wichtiger. Für ihn zähle jetzt, was mit der Familie sei, mit den Freunden, und wo er Menschen in seiner Umgebung unterstützen könne. Ich nehme das Jogi Löw ab. Er meinte das ernst. Genauso ernst wie meine Schwabacher Friseurin. Sie erzählte mir, dass sie ihre älteren Nachbarn fragen werde, ob sie für sie einkaufen soll. Sie möchte in dieser schweren Zeit nicht nur an sich selber denken. Sie will auch für andere da sein.
Das sind nur zwei von vielen ähnlichen Beobachtungen und Erfahrungen. Trotz der leichtsinnigen und verantwortungslosen Dummköpfe, die „Corona-Partys“ gefeiert haben, bin ich davon überzeugt, dass die Mehrheit unter uns ähnlich denkt wie Jogi Löw und meine Friseurin. Daher teile ich die optimistische Einschätzung unseres Landesbischofs. Wir werden gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Die stillende, liebende, beschützende Mutter 
Der zweite, für mich viel wichtigere Grund für diese optimistische Sichtweise ist der Wille Gottes, seine Kinder zu behüten wie eine Mutter. Davon erzählt unser Predigttext. Was hier dem niedergeschlagenen jüdischen Volk versprochen wird, gilt seit Ostern auch für die Christenheit: Gott wird ihre jüdischen und christlichen Kinder trösten, aufrichten und in ihren Frieden führen.  
Mit was für einem Bild wird das am Ende Jesajabuches beschrieben! Gott begegnet uns hier als stillende Mutter, die ihren jüdischen und christlichen Kindern ihre Brüste darbietet, damit sie reichlich trinken und sich an ihr erfreuen. Als eine liebende Mutter, die ihre Kinder auf den Armen trägt und auf ihren Knien liebkost. Und als eine beschützende Mutter, die ihre Kinder tröstet, ihnen Frieden schenkt und ihren Feinden mit Zorn begegnet. Wer einer für ihre Kinder kämpfenden Mutter schon einmal begegnet ist, weiß, dass dies das stärkste Bild für die Liebe, den Schutz und die Fürsorge Gottes ist, das denkbar ist. Gott ist für uns da wie eine stillende, liebende und beschützende Mutter. 
Das heißt nun freilich nicht, dass wir unsere Hände in den Schoß legen können. Mit Krisen wie der jetzigen müssen wir schon selbst fertig werden. Doch lässt uns Gott mit ihrem Geist in Zeiten wie diesen nicht allein. In unseren Herzen ist sie da mit ihrer Liebe und ihrem Trost. Ihre Nähe lässt uns, ihre getauften Kinder, genauso optimistisch in die Zukunft blicken wie ihr jüdisches Volk. Komme, was mag.
Deshalb nehme ich im derzeitigen Zustand des Dazwischen wie unser Landesbischof eine andere Wegrichtung wahr als viele unserer pessimistischen Zeitgenossen. Wir sind auf dem Weg in die offenen Arme unserer himmlischen Mutter. Wir sind auf dem Weg von der Finsternis ins Licht, von der Trauer in die Freude. Wir gehen vom Sonntag Lätare, dem Sonntag des Dazwischen, auf Ostern zu.

Ich beende diese Predigt mit einem Gebet von Karl Barth, auf das ich in der vergangenen Woche stieß:

Herr, unser Gott!
Wenn wir Angst haben, dann lass uns nicht verzweifeln.
Wenn wir enttäuscht sind, dann lass uns nicht bitter werden.
Wenn wir gefallen sind, dann lass uns nicht liegenbleiben.
Wenn es mit unsern Kräften zu Ende ist, dann lass uns nicht umkommen.
Nein, lass uns deine Nähe und Liebe spüren.

Amen.