Lesepredigt Okuli 2020

15.März 2020
Predigt zu Lukas 9,57-62
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Die Mitte des Lebens


Worte über die Nachfolge
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Lukas im 9. Kapitel. Die Verse 57 bis 62 lauten:

Als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester. Aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes. Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

Ausnahmezustand
Was haben wir für Tage hinter uns, liebe Gemeinde. Und das scheint erst der Anfang zu sein. Die Corona-Pandemie hat uns nun fest im Griff. Die Schulen und Kindergärten sind zu. Es finden kaum noch Veranstaltungen statt. Und keiner weiß, wie lange dieser Zustand bestehen bleibt. Ob es vielleicht noch ärger kommt und das Land bald ganz stillsteht.

Wir befinden uns in einem Ausnahmezustand. Wir sind aus dem alltäglichen Lebensrhythmus mit seinen Terminen und Regelungen, Kontakten und Verpflichtungen herausgerissen worden. Für viele ist das mit Ärger und Sorgen verbunden. Gerade junge Eltern fragen sich jetzt: Wer kümmert sich um die Kinder? Bekomme ich frei? Zeigt mein Arbeitgeber dafür Verständnis?
Viele haben auch Angst. Wie schnell ist dieser Ausnahmezustand über uns gekommen. Unser normales Leben ist so plötzlich aus den Fugen geraten.
Die tägliche Berichterstattung in den Medien verstärkt die Angst. Dort fragt man sich vor allem, wie wir den Ausnahmezustand wirtschaftlich verkraften. Vergleiche mit der Finanzkrise 2008 oder gar dem Krieg werden gemacht.
Kann es wirklich so schlimm werden? Sind die Jahre des Aufschwungs vorbei? Ist unser globales Wirtschaftssystem in Gefahr? Droht der Absturz, die große Pleite?

Die Kanzelabkündigung des Bischofs
Darüber könnten wir jetzt wahrscheinlich lange miteinander spekulieren, liebe Gemeinde. Doch brächte es uns nicht weiter. Weder fänden wir eine wirklich befriedigende Antwort auf die Fragen, noch würde uns dadurch die Angst genommen. Wie aber sollten wir dann auf diesen Ausnahmezustand reagieren?  Die Kanzelabkündigung des Landesbischofs weist einen Weg auf; und zwar den Weg der Liebe und Besonnenheit. Biblischer Bezugspunkt ist eine Aussage über den Heiligen Geist aus dem 1. Kapitel des zweiten Briefes an Timotheus: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und Liebe und der Besonnenheit.“
Der Geist der Liebe lehrt uns auf jene Rücksicht zu nehmen, die besonders durch das Coronavirus bedroht sind. Und der Geist der Besonnenheit hilft uns, die damit verbundenen Probleme zu akzeptieren.

Die Mitteilung der Dekanin
Neben der Kanzelabkündigung des Landesbischofs habe ich am Freitag noch eine Email unserer Dekanin Berthild Sachs erhalten. In dieser Email teilt sie uns Pfarrerinnen und Pfarrer Empfehlungen für das derzeitige kirchliche Leben mit.
Dekanin Sachs nimmt den Ausnahmezustand aus einem anderen Blickwinkel wahr. Für sie hat er dazu geführt, dass wir „in den nächsten Wochen eine ungewohnt entschleunigte Passionszeit erleben. Uns wird in mancherlei Hinsicht ein ‚Fasten‘ verordnet, was Gemeinschaft und Geselligkeit, Musik und Miteinander angeht.
Für Dekanin Sachs ist das eine Chance. „Vielleicht gelingt es uns“, so Sachs, „in Zeiten, in denen wir auf gemeinschaftsstiftende Zeichen und Gesten und Angebote mehr als sonst verzichten müssen, dem ‚Wort‘ wieder ganz neu zu vertrauen und die Worte sprechen zu lassen. Auch Worte, zumal die biblischen, schenken Trost und Nähe, geschrieben und gemailt, per Telefon, in Andacht und Gottesdienst.“

Perspektivwechsel
Dekanin Sachs plädiert für einen Perspektivwechsel. Weg vom Lamento über die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie hin zu einer entschleunigten Passionszeit, zu einer neuen Wertschätzung des biblischen Wortes.
Perspektivwechsel. Darum geht es auch in unserem Predigttext. In drei Gesprächen macht Jesus auf ziemlich drastische Weise deutlich, worum es aus seiner Sicht bei der Nachfolge geht: um loslassen, verzichten, Trennungen vornehmen, neue Wege gehen.
Ausgangspunkt für die Nachfolge ist die Frage: Wird mein Leben der Liebe Gottes gerecht? Natürlich wird es das bei uns allen nur bruchstückhaft. Gerade deshalb muss es in meinem Leben ein Bemühen um die Liebe Gottes geben.
Ich muss mich zumindest ernsthaft darum bemühen, der Liebe Gottes im Umgang mit meinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen gerecht zu werden. Ist das nicht der Fall, kreise ich letztlich nur um mich und meine eigenen Vorlieben und Interessen. Dann blicke ich zurück und will nichts ändern.

Die Mitte unseres Lebens
Das ist der Grund für die Radikalität Jesu in den drei Gesprächen um die Nachfolge. Der Blick zurück oder die Ansage, erst wichtige Dinge erledigen zu wollen, stellt die Ernsthaftigkeit der Nachfolge in Frage. Im Grunde sind wir ja bereit. Aber bitte nur dann, wenn es uns passt.
Die Liebe Gottes, ja Gott selbst wird nicht wirklich ernst genommen. Sie nimmt nicht die Mitte unseres Lebens ein. Doch dorthin gehört sie: in die Mitte unseres christlichen Lebens.

Das betonte auch Dietrich Bonhoeffer, an dessen 75. Todestag am 9. April erinnert wird. In seinem in der Haft geschriebenen Buch „Widerstand und Ergebung“ schreibt er:
„Gott ist […] kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muß Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens“, so Bonhoeffer.

Wer Jesus Christus nachfolgen will, macht die von ihm verkündigte und gelebte Liebe Gottes zur Mitte seines Lebens. Denn erst dann sind wir bereit, unser altes und selbstbezogenes Leben loszulassen. Erst dann sind wir bereit, zu verzichten und uns auf das wirklich Notwendige zu beschränken. Erst dann sind wir bereit, auch schmerzhafte Trennungen zu vollziehen und neue Wege zu gehen.

Das entnehme ich heute den drei Gesprächen über die Nachfolge, liebe Gemeinde. Die Liebe Gottes hat ihren Platz in der Mitte unseres Lebens. Dort gehört sie hin.

In dieser unverhofft entschleunigten Passionszeit hat jede und jeder von uns Zeit, darüber nachzudenken. Fragen Sie sich selbst: Ist Gottes Liebe wirklich in der Mitte meines Lebens? Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich diese Zeit nehmen und nicht zurückblicken.

Kanzelsegen: Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.