Lesepredigt 5. Sonntag nach Trinitatis

12. Juli 2020
Predigt zu Lukas 5,1-11
Pfr. Dr. Roland Liebenberg

Unsere vollen Netze


Der zweite Fischfang des Petrus

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 5. Kapitel des Lukasevangeliums:
Es begab sich, als sich die Menge zu Jesus drängte, zu hören das Wort Gottes, da stand er am See Genezareth. Und er sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Bot aus.
Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im anderen Boot waren, sie sollten kommen und ihnen ziehen helfen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken.
Da Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die mit ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu ihm: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.


Leere Netze

Die ganze Nacht haben Petrus und seine Fischerkollegen gearbeitet. Doch ihre Netze blieben leer. Ein passenderes Bild zur derzeitigen Lage unserer Kirchen kann man sich wahrscheinlich nicht ausdenken. Sicher haben Sie es in den Nachrichten gehört oder in den Zeitungen gelesen: Im Jahr 2019 sind über eine halbe Millionen Menschen aus der katholischen und den evangelischen Kirchen ausgetreten. Mehr als in irgendeinem Jahr davor. Unsere bayerische Landeskirche verlor rund 32.000 Mitglieder. Das entspricht einem mittelgroßen Dekanat. Und in diesem Corona-Jahr verlassen wahrscheinlich noch mehr Menschen ihre Kirche. Dafür werden Kurzarbeit, Kündigungen und Insolvenzen sorgen.
Was haben die Kirchen in unserem Land nicht alles in den vergangenen Jahrzehnten getan, um den Mitgliederschwund aufzuhalten. Eine Strukturreform nach der anderen wurde durchgeführt. Kirchenzentern hat man an markanten Orten hochgezogen und attraktive Missionsprojekte wie etwa Jugendkirchen ins Leben gerufen. Das Augenmerk lag dabei auf jenen, die zur Kirche ein eher distanziertes Verhältnis haben. Sie wollte man ansprechen und wieder enger anbinden. Doch es half nichts. Die Reformen und Projekte waren erfolglos. Die ausgeworfenen Netze blieben leer. Immer mehr Menschen treten aus.
Wir sollten uns daher eingestehen: Wir können gegen die Austrittswut der Deutschen nichts tun. Das gilt auch für uns hier vor Ort. Selbst eine gute Beziehung des Pfarrers oder der Kirchenvorsteherinnen zu den Gemeindegliedern hält sie nicht vor dem Kirchenaustritt zurück. Das musste ich in den vergangenen Jahren schmerzhaft erkennen. Vielleicht fällt jenen, die mich oder die Kirchenvorstände gut kennen, der Austritt etwas schwerer. Aber durch meine Arbeit oder die des Kirchenvorstands bleiben sie nicht in ihrer Kirchengemeinde. Wenn ihnen etwas nicht passt, oder Geld gespart werden muss, treten sie aus. Inzwischen gestehe ich mir selbst ein: Auch meine Netze sind leer.

Volle Netze

Wer sich das eingesteht, wird schnell der Resignation und des Kleinglaubens bezichtigt. Ja, mich schmerzt der Niedergang unserer Volkskirche. Und ich denke, es geht jenen 13 Prozent der Protestanten genauso, die sich neben dem Gottesdienstbesuch in ihren Kirchengemeinden engagieren. Ganz gleich, was sie alles in ihrer Kirchengemeinde auf die Beine stellen, die vom Einwohnermeldeamt gemeldeten Austrittszahlen nehmen stetig zu. Wie bewahrt man sich da die Freude und den Elan?
Lukas gibt uns darauf mit seiner ausgeschmückten Berufungserzählung einen Hinweis. Nicht wir sorgen mit unserer Arbeit für volle Netze. Es ist Jesus Christus selbst, der die Netze füllt. Diese Erfahrung macht in unserer Erzählung der frustrierte Fischer Simon Petrus. Die ganze Nacht hatte er auf dem See geschuftet. Immer wieder von Neuem die Netze ausgeworfen. Doch sie blieben leer. Erst als Jesus mit im Boot war, quollen die Netze über mit Fischen.
Heißt das, dass wir unsere bisherige Arbeit ohne ihn vollzogen haben? Dass unsere Netze leer geblieben sind, weil der Herr nicht im Boot war? Nein, das heißt es nicht. Wer so denkt, für den ist Gemeinde und Kirche im Grund nur eine quantitative Größe. Je größer und einflussreicher die Kirche, umso mehr ist in ihr auch der Herr am Werk. Wäre das die Botschaft der vollen Netze, dann hätte Jesus einen dynamischen Feldherrn und nicht einen erfolglosen Fischer in die Nachfolge gerufen.
Jesus geht es nicht um eine möglichst große und einflussreiche Kirche. Ihm geht es um die Menschen und ihre Beziehung zu Gott. Ob diese Beziehung in einer mächtigen Großkirche oder in einer kleinen, unscheinbaren Gemeinde gelebt wird, ist nicht von Belang. Entscheidend ist die Beziehung zu Gott. Die vollen Netze verstehe ich daher in erster Linie als ein Bild für das Leben mit Jesus. Sie stehen für die Fülle an Glauben, Liebe und Hoffnung, die das Leben mit Jesus bereithält. Und zwar völlig unabhängig davon, wieviel Menschen meiner Kirchengemeinde und Kirche angehören.
Die vollen Netze lassen Petrus erkennen, wer da in sein Boot gestiegen ist. Petrus jubelt daher nicht über den großen, erfolgreichen Fang. Im Gegenteil, ihn erfasst Furcht und Schrecken. Denn mit Jesus befindet sich Gott in seinem Boot. Erst der Zuspruch Jesu nimmt ihm die Furcht. Und dann ändert sich sein Leben grundlegend.

Notwendige Veränderungen

Die vollen Netze können daher auch als ein Bild für die Fahrt zu neuen Ufern gedeutet werden. Diese Fahrt hat wenig gemein mit den Routen, die man mit den bisherigen Reformmaßnahmen eingeschlagen hat. Denn diese dienten bisher vollkommen erfolglos dem Zweck, die Kirche wieder auf die Wachstumsspur zurückzuführen. Das illusionäre Motto der von den Kirchenleitungen verantworteten Reformmaßnahmen lautete stets: „Wachsen gegen den Trend“.

Lukas teilt uns mit seiner Erzählung etwas anderes mit. Hört auf, ruft er uns zu, die Bewertung eurer Arbeit und eures Engagements von Zahlen und Statistiken abhängig zu machen. Haltet euch an Jesus und folgt ihm nach. Er allein führt euch zu neuen Ufern. Wir engagieren uns, weil wir unserem Herrn und seiner Menschenliebe nachfolgen. Inwiefern unser Engagement dazu führt, dass sich andere Menschen unseren Kirchengemeinden verbunden fühlen, liegt nicht in unserer Hand. Das liegt in der Hand Gottes. Denn Gott allein baut seine Gemeinde, und zwar wo und wann er will. Das gilt es endlich ernst zu nehmen.
Unsere Landeskirche und ihr übergroßer Verwaltungs- und Leitungsapparat fahren vielleicht an die Wand. Aber das heißt noch lange nicht, dass der Herr nicht mit uns unterwegs ist. Reden und Handeln wir in seinem Namen, ist Jesus mit im Boot und fährt mit uns zu neuen Ufern. Wie stürmisch die Fahrt auch werden mag, wie auch immer die neuen Ufer aussehen werden, Jesus ist mit uns unterwegs. Er fährt mit in unserem Boot. Unsere Netze sind daher nicht leer. Sie sind voll. Genauso voll wie die Netze des Petrus.