10. April 2020
Predigt zu 2 Korinther 5,19-21
Pfr. Dr. Roland Liebenberg
Gott war in Christus
Worte des Paulus zur Kreuzigung Jesu
Der diesjährige Predigttext für den Karfreitag steht im 5. Kapitel des zweiten Korintherbriefes:
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen die Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
So sind wir nun Botschaft an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns. So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Verehrung des Kreuzes
Es ist Karfreitag, der Tag, an dem die Christenheit sich an die Kreuzigung und den Tod Jesu erinnert, liebe Gemeinde. Gottesdienstliche Feiern gab es an diesem Tag wohl erst ab dem 4. Jahrhundert. In Jerusalem versuchte die Gemeinde den Weg Jesu von der Festnahme im Garten Getsemani bis zur Kreuzigung auf einem liturgischen Kreuzweg nachzuempfinden. Im Zentrum der Feier stand die Verehrung der Kreuzesreliquie, eines Überrestes des Kreuzes, an dem Jesus zu tode gefoltert wurde.
In der katholischen Kirche knüpft man mit der so genannten „Kreuzerhebung“ am Karfreitag an diese Tradition an. Ein mit einem Tuch verhülltes Kreuz wird bis zum Altar getragen. Dort nimmt es der Priester entgegen. Er enthüllt zunächst nur den oberen Teil des Kreuzes, hält es dann empor und singt den Ruf zur Kreuzerhebung: „Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt.“ Alle antworten: „Kommt, lasset uns anbeten.“ Nach einer Gebetsstille enthüllt der Priester das ganze Kreuz und stellt es auf den Altar. Dann beginnt die Verehrung des Kreuzes. Die ganze Gemeinde zieht am Kreuz vorüber und verehrt es durch eine Kniebeuge oder ein anderes Zeichen der Verehrung.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie diesen Vorgang befremdlich finden. Ein grausames Folterinstrument wird in einem christlichen Gottesdienst als etwas Heiliges verehrt. Wie ist das möglich?
Der gekreuzigte Gott
„Gott war in Christus“, lautet hierauf die Antwort des Apostels Paulus. Gleich mit dem ersten kurzen Satz am Anfang unseres Predigttextes teilt er uns mit, warum sich das Kreuz des Mannes aus Nazareth abhebt von den vielen tausend Kreuzen der Römer entlang den Straßen ihres Imperiums; warum es hier um mehr, um viel mehr geht als um einen unschuldig hingerichteten Mann, der im Räderwerk von Macht und Bosheit zerrieben wurde.
Gott war in Christus. So bringt Paulus den christlichen Glauben auf den Punkt. Das ist der Grund, warum es die Christenheit gibt. Warum wir uns am Karfreitag an die Kreuzigung Jesu erinnern. Warum unsere katholischen Glaubensgeschwister in ihren Gottesdiensten eine Kreuzerhebung feiern. Gott war in Christus.
Gott beobachtete nicht aus der Ferne und unbeteiligt das grausame Geschehen auf der Hinrichtungsstätte Golgatha. Gott lieferte seinen Sohn nicht der Bosheit und Niedertracht der Menschen aus. Gott war seinem Sohn in seiner schwersten Stunde nicht nur nah. Nein, Gott war in Christus. Gott hing mit ihm am Kreuz. Gott ist der gekreuzigte Gott
Wir glauben an den gekreuzigten Gott. An einen Gott, der in seinem Sohn zu den Geringsten, den Kranken und Ausgestoßenen, den Alten und Gebrochenen ging, an ihren Tischen und Betten Platz nahm, um sie aufzurichten und zu stärken mit seinem liebenden Wort oder seiner heilenden Tat. Wir glauben an einen Gott, der in seinem Sohn den Weg aller Menschen teilte – bis zum Tod am Kreuz. Im Gekreuzigten, da ist unser Gott. Nirgendwo sonst. Und nur so, als der gekreuzigte Gott, ist der liebende Vater bei den Menschen und steht ihnen bei in ihrer Not und ihrem Leid.
Gott in uns
Wie hat man sich das vorzustellen? Wie steht Gott zum Beispiel den Menschen in den überfüllten Intensivstationen dieser Welt bei? Ich stelle mir vor, dass viele vom Tod bedrohte Menschen in ihrer Verzweiflung Gott anrufen. Auch die Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte werden angesichts der enormen Belastung und schweren Entscheidungen, die sie treffen müssen, Gott um Hilfe bitten. In der Regel begreifen sie Gott als eine ferne Instanz, die irgendwie den Lauf der Welt bestimmt. Die Gespräche enden daher meist mit einem Vorwurf: Gott, warum muss ich das erleiden? Wieso hast du mir das angetan? Wieso muss ich diese schwere Entscheidung treffen? Nimmt das Gespräch diesen Verlauf, wird die Verzweiflung im Krankenzimmer auf der Intensivstation noch größer. Zur Not und zum Leid kommt der Bruch mit Gott hinzu.
Doch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi ist keine ferne Instanz. Der gekreuzigte Gott ist seinen leidenden Geschöpfen auch nicht nur nah. Gott ist in ihnen. Mit seinem liebenden Geist erfüllt er ihre ängstlichen und aufgeschreckten Herzen. Wer Gottes Geist in sich im Glauben erfährt, erlebt etwas Wunderbares. Paulus nennt es „Versöhnung".
Fröhlicher Platzwechsel
Gott nimmt unsere Angst und Verzweiflung, unsere Ratlosigkeit und Not angesichts des Todes auf sich. Im Gegenzug schenkt uns Gott das feste Vertrauen, in seiner Liebe ewig geborgen zu sein. Gottes Geist teilt uns einen „Platzwechsel“ mit. Das in etwa meint das griechische Wort für Versöhnung. Luther übersetzt es in seiner „Freiheitsschrift“ mit den Worten „fröhlicher Wechsel“. Gott und der verzweifelte, vom Tod bedrohte Mensch tauschen die Plätze. Gott nimmt mit seinem gekreuzigten Sohn auf unserem Stuhl der Angst und Verzweiflung, der Ratlosigkeit und Trauer Platz, während wir uns auf Gottes Stuhl des Glaubens, der Liebe und Hoffnung setzen dürfen.
Als Luther diesen fröhlichen Platzwechsel bei seinen Paulus-Studien entdeckte und dabei von Gottes Geist innerlich ergriffen wurde, fühlte er sich frei von seinen ihn quälenden Ängsten: „Da hatte ich das Empfinden“, berichtete er später, „ich sei geradezu von neuem geboren und durch das geöffnete Tor in das Paradies selbst eingetreten.“
Der gekreuzigte Gott hat den Platz mit uns gewechselt. Nun steht auch für uns das Tor in das Paradies offen. Das ist das Versprechen des gekreuzigten Gottes. Dieses Versprechen gilt in diesen schweren Tagen vor allem den Menschen in den überfüllten Intensivstationen. Ich bin mir gewiss, dass es die mit dem Tod ringenden Menschen, seien es die Patienten oder seien es die Pflegekräfte und Mediziner*innen, trösten und aufrichten kann. Möge der gekreuzigte Gott in ihnen sein, möge Gott ihre Herzen mit seinem Geist erfüllen und ihr Vertrauen in seine ewige Liebe stärken.
Mit der letzten Strophe des Gedichtes „Christen und Heiden“ von Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 von den Nazis ermordet wurde, wünsche ich Ihnen einen gesegneten Karfreitag:
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, / sättigt den Leib und Seele mit seinem Brot, /
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, / und vergibt ihnen beiden.