02.04.2021
Predigt zu Jesaja 53,4f.
Pfr. Dr. Roland Liebenberg
Unser Sündenbock
Der leidende Gottesknecht
Der Predigttext für den heutigen Karfreitag steht bei Jesaja im 53. Kapitel. Dort heißt es:
Fürwahr, er trug unsere unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Antisemitische Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien sind derzeit hoch im Kurs, liebe Gemeinde. Auf Facebook oder Twitter werden sie unters Volk gebracht. Dort kann man lesen, Israel oder „die Juden“ hätten die derzeitige Pandemie erzeugt. Sie wollten andere Länder unter ihre Kontrolle bringen oder mit einem Impfstoff Geld verdienen. Sind es nicht Israel oder „die Juden“, werden einzelne jüdische Persönlichkeiten wie der Investor George Soros oder die Rothschild-Familie für die Pandemie verantwortlich gemacht. Solche Beschuldigungen pflegen das Klischeebild vom jüdischen Kaufmann, der sich am Unglück anderer bereichert.
Hinter derart judenfeindlichen Ansichten kommt eine Neigung zur Gewalt zum Vorschein. Sie zeigt sich besonders in Krisenzeiten wie der jetzigen. Läge das Heft des Handelns in den Händen der Verschwörungstheoretiker, käme es wahrscheinlich zu gewalttätigen Ausschrei-tungen. Juden müssten wieder als „Sündenböcke“ mit ihrer Ausstoßung und Vernichtung rechnen.
Der Gottesknecht als Sündenbock
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Gewalt. Und in dieser Geschichte der Gewalt begegnen uns immer wieder „Sündenböcke“. In Stellvertretung für alle anderen sollen sie die Schuld auf sich nehmen. Die Gewalt wird konzentriert auf ein Opfer. Das soll dem Gemeinwohl dienen. Ansonsten ist zu befürchten, dass die Gewalt eskaliert. Dass die Menschen wie wilde Tiere übereinander herfallen.
„Fürwahr, er trug unsere unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. […] Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Der leidende Gottesknecht in unserem Predigttext ist ebenfalls ein „Sündenbock“. In Stellvertretung nimmt er die Schuld und Strafe der anderen auf sich.
Jesus als Sündenbock
Wenn wir uns diesen Zusammenhang deutlich machen, denken wir automatisch an Jesus Christus und seinen Tod am Kreuz. Auch der Gekreuzigte kann als „Sündenbock“ verstanden werden. Als ein unschuldig leidendes Opfer für andere, als ein Opfer für uns.
Diesen Zusammenhang stellten die Anhänger Jesu und die Verfasser der Evangelien her. Sie waren Juden und sie kannten ihre hebräische Bibel, die wir seit dem zweiten Jahrhundert Altes Testament nennen. Sie kannten die Lieder vom leidenden Gottesknecht im Buch des Propheten Jesaja. Als sie sich den Weg Jesu in Jerusalem in Erinnerung riefen, nahmen sie den Gottesknecht in seiner Person wahr. Den Ausdruck Sündenbock ersetzten sie durch einen anderen. Sie sprachen vom „Lamm Gottes“.
Wie der Sündenbock benennt es das stellvertretende Opfer für alle anderen. Treffender noch als der Bock hebt das Lamm die „Unschuld des Opfers, die Ungerechtigkeit seiner Verurteilung und die Grundlosigkeit des gegen dieses Opfer gerichteten Hasses“ (René Girard) hervor.
Jesus, wie ihn die Evangelien schildern, begibt sich in die Nähe sämtlicher Sündenböcke der biblischen Tradition. Seinen Weg ans Kreuz geht Jesus im Schatten der ermordeten oder verfolgten Propheten, im Schatten Abels, Josephs oder eben des leidenden Gottesknechts. Jesus Christus ist unser Sündenbock. Er ist das unschuldige Opfer, das unsere Sünden und die damit verbundene Gewalt auf sich nimmt.
Die Verdrängung der Schuld
Viele, ja die meisten unter uns, lehnen diese Vorstellung ab. Ein Sündenbock, der als unschuldiges Opfer unsere Sünden auf sich nimmt. Wir sind aufgeklärte und moderne Menschen, höre ich uns sagen. Wir benötigen keinen Sündenbock. Nichts wird derzeit mehr verdrängt, liebe Gemeinde, als die Sünde. Immer weniger Menschen sind bereit, sich als Sünder zu begreifen. Mit „Sünde“ ist nicht unser moralisches Versagen gemeint. Das Wort Sünde bezeichnet unsere Distanz zu Gott und sein Angebot für ein gutes und verantwortliches Leben.
Diese Distanz wird kaum noch beachtet. Von den frommen Christen nicht, die nur noch von Gottes Nähe und Liebe reden. Und von der konfessionslosen Mehrheit in unserer Gesellschaft nicht, die sich darüber überhaupt keine Gedanken mehr macht. Gott ist ihnen so fern, dass
ihnen die Ferne nichts mehr ausmacht.
Ja, Gott ist uns fern. Und das liegt nicht an Gott. Es liegt an uns. An unserer Selbstbezogenheit und unserem Größenwahn. Weil sie ihre Gottesferne, ihre Sünde verdrängen oder gar nicht mehr wahrnehmen, fällt es den Menschen bei uns so schwer, von ihren „Missetaten“ zu reden.
Kaum noch jemand bekennt sich zu seiner Schuld. Das konnte auch bei der „Maskenaffäre“ in den vergangenen Wochen beobachtet werden. Sogenannte Volksvertreter verdienen sich mit Steuergeldern eine goldene Nase. Als ihre verwerflichen Geschäfte auffliegen, hörte man von
keinem einzigen Politiker das Eingeständnis einer Schuld.
Für unsere Sünden gestorben
Sie und die meisten in unserer angeblich sündlosen Gesellschaft können daher mit der Aussage, dass Jesus „für unsere Sünden gestorben“ ist, nichts mehr anfangen. Sie können in der Kreuzigung Jesu überhaupt keinen Sinn mehr erkennen.
Gott ist uns fern. Erst wenn wir das nicht mehr verdrängen und uns zu unsrer Sünde bekennen, können auch wir sagen: „Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.“ Dann ist uns auch Paul Gerhardts Passionschoral „O Haupt voll Blut und Wunden“ wieder nah. Mit innerer Anteilnahme können wir singen: „Nun, was du Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast.“
Gott als Sündenbock
Wir müssten am Kreuz hängen. Doch Christus hat für uns den Weg zum Kreuz auf sich genommen. Er ist unser Sündenbock. Er ist unser Lamm Gottes, das unschuldige Opfer, das unsere Sünden und die damit verbundene Gewalt auf sich nimmt.
Und wo ist Gott, der allmächtige Gott? Darauf gibt es für mich nur eine Antwort: Gott ist bei ihm, bei seinem geliebten Sohn am Kreuz. Mit seinem Sohn hängt für uns Christinnen und Christen auch Gott am Kreuz. Gott hat seinen Sohn nicht verlassen. Gott ist bei ihm, bei seinem Sohn am Kreuz. Der ewige und allmächtige, gütige und barmherzige Gott entschied sich mit seinem Sohn, unser Sündenbock zu sein.
Mit seinem gekreuzigten Sohn nimmt Gott alles auf sich, was uns von ihm und seiner Güte, Liebe und Barmherzigkeit trennt. So heilt uns Gott von unserer Gottesferne und schenkt uns sündhaften Menschen seinen Frieden. Das ist für mich heute die erste Botschaft vom Kreuz. Es gibt noch ein zweite. Wenn Gott bei seinem Sohn am Kreuz ist, dann heißt das: der ewige und allmächtige Gott stellt sich vollkommen gleich mit seinem ohnmächtigen Sohn. Und mit ihm, dem Gekreuzigten, stellt sich Gott mit allen Ohnmächtigen dieser Welt gleich. Auch mit den Sündenböcken.
Das sollten wir Christinnen und Christen den Anhängern von Verschwörungstheorien mitteilen. Wer „die Juden“ oder einzelne jüdische Persönlichkeiten mit Lügen wieder zu Sündenböcken machen will, hat Gott gegen sich. Das mag den ungläubigen Verschwörungsfan-tasten im Moment vielleicht egal sein. Doch Gott ist Gott. Seine aus Liebe gewählte Ohnmacht am Kreuz war nicht sein letztes Wort. Auf Karfreitag folgt Ostern.