Lesepredigt Miserikordias Domini

18.04.2021
Predigt zu Hesekiel 34,1-2.10-16.31
Pfarrer Dr. Roland Liebenberg

Unser Hirte


Gott reagiert auf die schlechten Hirten

Der Predigttext ist dem 34. Kapitel des nach dem Propheten Hesekiel benannten Buches entnommen. Dort steht geschrieben:

Des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage den Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? So spricht Gott, der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.

Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Lande bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. Ich will sie auf die beste Weide führen und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein. Da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben in den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.

Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten: ich will sie weiden, wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.


Ein veraltetes und patriarchales Bild 

In meinen jungen Jahren konnte ich mit dem Bild des Hirten nichts anfangen. Es widersprach meiner Vorstellung, wie wir leben sollten, nämlich frei und selbstbestimmt. Mit einem Hirten, der auf mich aufpasst, der mir sagt, wohin ich gehen soll, konnte ich nichts anfangen. Das Bild des Hirten kam mir veraltet vor. Für mich war es ein Bild aus einer patriarchalen Vergangenheit. Aus einer Zeit, in der Frauen sich den Männern unterordneten. In der alte Männer als Patriarchen die Geschicke in Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Familie bestimmten.

Für mich passte das nicht mehr in unsere Zeit. In eine Zeit, die allen Menschen gleiche Rechte zuspricht. Die Frauen und Männer gleichstellt. Die in allen Lebensbereichen demokratische Verhältnisse einfordert. Für was soll da noch das alte Bild des Hirten gut sein? Wenn überhaupt, ist jede und jeder von uns sein eigener Hirte.

Jahre sind seitdem vergangen. Und mit den Jahren hat sich meine Meinung dazu verändert. Mir sind die Werte, für die ich früher eintrat, heute noch wichtig. Doch stehen sie für mich nicht mehr im Widerspruch zum Bild des Hirten. Das Bild des Hirten in der Bibel nehme ich heute vielschichtiger wahr. Es hat auch unserer Zeit etwas zu sagen, wenn man es sich etwas genauer ansieht. Unser Predigttext stellt für mich in dieser Hinsicht eine gute Sehhilfe dar.

Die babylonische Gefahr

Von schlechten Hirten ist in ihm die Rede. Ausgesprochen wurde diese Meinung vom Propheten Hesekiel vor über 2500 Jahren. Hesekiel war der Sohn eines Priesters. Er wurde nach der Besetzung des Königreichs Juda im Jahr 598 vor Christus mit Israels Oberschicht nach Babylon verschleppt. Die einfachen Leute ließ der babylonische Herrscher Nebukadnezar II. im Land. Sie mussten dort den neuen Herrschern dienen.
 
Der Mehrheit der verschleppten Führungsschicht hatte es dagegen in Babylon gut. Die Israeliten wurden geschlossen an Orten angesiedelt. Mit der Zeit durften sie sich frei bewegen. Das Babylonische Reich war ein „Multi-Kulti-Staat“. Es war offener gegenüber Fremden als das heutige Deutschland. Den Kindern der Verschleppten stand sogar der Staatsdienst offen. Archäologen fanden vor einigen Jahren das „Grab eines Juden, der als General in der babylonischen Armee gedient hatte“. Vielen Israeliten gefiel es Babylon so gut, dass sie trotz Rückkehrmöglichkeit dortblieben. Sie bildeten in Babylon die größte jüdische Gemeinde in der Diaspora.

Hesekiel erkannte als einer der ersten die drohende Gefahr. Die Priester kümmerten sich nicht um ihre Gemeinde. Sie vollzogen oberflächlich ihren kultischen Dienst und hatten ansonsten nur noch ihre politische Karriere im Sinn. Um im Bild des Hirten zu bleiben: Sie ließen ihre Herde im Stich und weideten sich selbst.

Sich selbst weiden

Der Predigttext spricht damit eines der größten Probleme der beiden großen Kirchen in Deutschland an. In der katholischen Kirche lebt der Klerus in einer anderen Welt. Seit dem 16. Jahrhundert wurde diese Welt mit Dogmen gebaut und gefestigt.

Sie ist klar strukturiert und hierarchisch geordnet. Wer sich dieser Welt verschreibt wie die Priesteramtskandidaten träumt davon, es in dieser Welt zu etwas zu bringen. Er träumt davon, die klerikale Karriereleiter zu erklimmen. Er träumt davon, sich selbst zu weiden. Die katholische, genauer: vatikanische Priesterwelt benötigt keinen Dialog mit den Laien, keine Maria 2.0-Bewegung, keine Segnung von homosexuellen Paaren oder andere dem Zeitgeist geschuldete Spinnereien. Die vatikanische Priesterwelt ist sich selbst genug. Sie wird sich auch nicht ändern, wenn ihr alle Schäflein in Deutschland davonlaufen.

Wer glaubt, dass es um die großen evangelischen Kirchen besser steht, irrt. Letzte Woche bekam ich aus München etwas unverhofft die Nachricht, dass die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer in unserer Landeskirche in den kommenden 15 Jahren mit großer Wahrschein-lichkeit um 50 Prozent zurückgehen wird.

Wie in der katholischen Kirche ist unser Problem der Nachwuchs. Warum finden junge Menschen keinen Zugang mehr zum Pfarrberuf? Sicher gibt es hierfür mehrere Gründe. Einer erscheint mir mit Blick auf unseren Predigttext aber besonders erwähnenswert: Der Pfarrberuf ist ihnen einfach nicht attraktiv genug. Die Aufstiegsmöglichkeiten und Verdienstaussichten sind angesichts des Aufwands im Studium und der Anforderungen im Beruf doch recht mager. Zudem ist das Image der beiden großen Kirchen durch den Missbrauchsskandal im Keller. Als Pfarrerin oder Pfarrer zu arbeiten, verspricht nicht unbedingt Geltung und Ansehen. Also lässt man das Theologiestudium lieber bleiben. Der Pfarrberuf in der evangelischen Kirche bietet kaum Möglichkeiten, sich selbst zu weiden.

Unser Hirte

Früher hätte ich gesagt: Der Pfarrermangel ist nicht so schlimm. Die engagierten Glieder in den Kirchengemeinden kriegen das schon hin. Sie sind ihre eigenen Hirten. Doch so funktioniert das freiwillige Ehrenamt nicht. Ein Freiwilliger ist kein Hauptamtlicher. Jedes Ehrenamt hat eine Grenze und seine Zeit. Und darüber bestimmt niemand anderes als die Ehrenamtlichen selbst. Zudem benötigt das Ehrenamt Unterstützung.

Doch die schlechten Hirten weiden lieber sich selbst. Entweder ziehen sie sich zurück in ihre Parallelwelt und kümmern sich um ihre klerikale Karriere. Oder sie verweigern den Hirtendienst, weil das derzeit nicht angesagt ist.

In diese deprimierende Situation hinein spricht Gott mit der Stimme des Propheten Hesekiel: „Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. […] Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.“ Gott lässt seine Herde nicht im Stich. Gott wird sich um sie kümmern. Sie mit seinem Wort suchen und sammeln.

Dieses Versprechen bekommen wir heute von Gott durch den Mund seines Propheten Hesekiel. Wie auch immer Gott das anstellen wird. Gott wird es tun. Denn Gott ist ein treuer Gott. Gott ist ein verlässlicher und guter Hirte. Dieser Hirte wird seine Herde auf guten Auen lagern und zu fetten Weiden führen. Er wird sie weiden wie es recht ist.
Darauf vertraue ich und habe deswegen keine Angst um die Zukunft seiner Herde.